Facetten der Moderne. Alpinistische Praktiken im Spiegel der Gesellschaft

In: Alpenvereinsjahrbuch BERG 2019.
Hg. DAV (München), ÖAV (Innsbruck), Alpenverein Südtirol (Bozen).

Banner-BERG2019

Facetten der Moderne (Download als PDF)

Der Frage „Was treibt uns an?“ soll mit der Darstellung der Entwicklung alpinistischer Praktiken vom Beginn der Moderne bis heute begegnet werden. Dabei wird nicht auf „den Alpinismus“ im engeren Sinne fokussiert, es werden auch ältere Praktiken wie das Botanisieren als auch gegenwärtige Praktiken wie das Hallenklettern miteinbezogen. Diese Praktiken entwickeln sich vor dem Hintergrund zweier gegenläufiger gesellschaftlicher Bewegungen: 1. der Rationalisierung und dem Glauben an den Fortschritt und 2. der oppositionellen Bewegung der Kritik daran. Von Beginn an trägt der Alpinismus daher die Widersprüche in sich, welche für die moderne Gesellschaft charakteristisch sind.

Teil I: Die Moderne

Die Moderne kann als ein Prozess der tiefgreifenden Veränderung gesellschaftlicher Strukturen und Denksysteme begriffen werden. Im 18. Jahrhundert beginnt sich mit der Aufklärung eine rationale, auf der Vernunft basierende Ordnung durchzusetzen. Dies führt zur Entstehung der Naturwissenschaften und dazu, dass die Natur zum Objekt der Erkenntnis wird.

  1. Erforschen

Der Alpinismus entwickelt sich parallel zur Entdeckung und Inventarisierung der Welt im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1786, drei Jahre vor der Französischen Revolution, wird der Mont Blanc durch den Arzt Paccard und den Kristallsucher Balmat erstmals bestiegen. In Auftrag gegeben wird die Erstbesteigung durch den Genfer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure. Dieser zählt zu den Begründern der Geologie und der Glaziologie (Gletscherkunde), auch zur Botanik leistet er wesentliche Beiträge.

Saussure erforscht bereits seit 1760 die Westalpen, insbesondere die Gegend um Chamonix und setzt Geld für die Erkundung einer Aufstiegsroute auf den Mont Blanc aus, um vom Gipfel aus geologische Beobachtungen und Messungen der Luftfeuchtigkeit machen zu können, wofür er eigens Messinstrumente entwickelt. Eines dieser Instrumente, das „Cyanometer“, dient der Messung der unterschiedlichen Blauschattierungen des Himmels.

Das Milieu, in dem sich de Saussure bewegt, ist bestimmt durch einen der bedeutendsten Universalgelehrten des 18. Jahrhunderts: den Schweizer Arzt, Dichter und Naturforscher Albrecht von Haller, der durch seine botanischen Studien schon früh das Hochgebirge kennenlernt. In seinem berühmten Gedicht „Die Alpen“ aus dem Jahr 1729 widmet Haller drei Strophen der Beschreibung der Alpenflora und regt zur Suche nach Kriterien an, wie diese zu klassifizieren wäre. Haller will die Pflanzen der verschiedenen Höhenzüge und Täler der Schweiz erkunden, beschreiben und in eine Ordnung bringen. Sein Gedicht birgt ein Forschungsprogramm und steht am Anfang des naturwissenschaftlichen Interesses für die Alpen.

Die Grundlage für diese neue „Ordnung der Dinge“ (Michel Foucault) bildet die binäre Nomenklatur (bestehend ausGattungsname plus Artzusatz) von Carl von Linné, mit welcher Mineralien, Säugetiere, Insekten und Pflanzen nach bestimmten Kriterien geordnet werden können. Linné legt damit  Mitte des 18. Jahrhundert den Grundstein für die moderne botanische und zoologische Taxonomie.

In den Ostalpen sind es Franz Xaver Wulfen und Belsazar Hacquet, welche ganze Gebirgsgruppen durchwandern, um pflanzenreiche Almen aufzufinden oder mineralogische Funde zu machen. Hacquet besteigt 1779 den Triglav, um sich von dort einen besseren Überblick über die „Physik der Erde“ verschaffen zu können, Wulfen nimmt aus botanischem Interesse an den großangelegten Expeditionen zur Glockner-Erstbesteigung von Fürstbischof Salm von Reifferscheidt in den Jahren 1799 und 1800 teil.

Das Botanisieren als wichtige Motivation der ersten alpinistischen Unternehmungen wird wenig betont, ist aber in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Mit ihm verbunden sind darüber hinaus weitere Praktiken wie das Wandernin Form der Fußreise durch die Alpen. Während die Alpen inventarisiert werden, reist der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt durch Südamerika, sammelt dort ebenfalls Pflanzen und Tiere und macht geologische Studien. Um das vulkanische Gestein zu erforschen, besteigt er 1802 den Chimborazo, einen 6310 Meter hohen Vulkan in Ecuador, und gelangt bis zu einer Höhe von 6000 Metern.

Der naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinn steht als Motiv am Beginn des Alpinismus. Mit der forschenden Neugier verbunden ist eine distanzierte und emotionslose Haltung, welche für die an der Vernunft orientierten Aufklärung charakteristisch ist. Als de Saussure selbst im Jahr 1787, umgeben von einer Unmenge modernster technischer Messinstrumente und einer großen Entourage an Bergführern, den Gipfel des Mont Blanc erreicht, will er dort nichts „Erleben“, sondern eine rationale Ordnung etablieren: Sein Ziel ist es, die Höhe des Berges zu vermessen, seine geologische Beschaffenheit zu erkunden und einen Überblick über die Gletscherwelt zu bekommen. Der Blick vom Gipfel des Mont Blanc über die umliegende Bergwelt stellt Saussure sofort zufrieden: „Nun konnte ich Verhältnisse, ihren Zusammenhang, ihren Bau einsehen und ein einzelner Blick räumte Zweifel aus dem Weg, die durch jahrelanges Arbeiten nicht behoben hatten werden können.“Saussures Blick ist der eines „neutralen“ Beobachters, der die Berge als Objekt betrachtet, Gefühle oder die körperliche Befindlichkeit nach den Mühen des Aufstiegs finden keinerlei Erwähnung.

Die neue naturwissenschaftliche Denkordnung prägt das Verhältnis des Menschen zur Natur in der Moderne: Sie begründet ein zweckrationales, instrumentelles und emotionsloses Verhältnis. Die Natur soll nicht nur erforscht, sie soll auch für den Menschen beherrschbar gemacht und als Ressource für die technische und ökonomische Weiterentwicklung genutzt werden. Der Fortschrittsglaube, der für die Moderne kennzeichnend ist, führt zur Instrumentalisierung und in weiterer Folge zur Ausbeutung und zur, zumindest teilweisen, Zerstörung der Natur.

  1. Betrachten

Teil der Moderne ist jedoch nicht nur der Glaube an Vernunft und Fortschritt, sondern auch die Kritik daran. Um 1800 entsteht mit der Romantik die erste Gegenbewegung zur versachlichenden Moderne, die dem Gefühl, der Ästhetik und der experimentellen Selbstentfaltung huldigt. Damit verbunden ist eine empathische Hinwendung zur Natur, welche nun subjektiv erlebt und sinnlich wahrgenommen wird. Die ästhetische Haltung, von griechisch aisthesis, bezeichnet die Rezeption der Welt mit allen Sinnen und das Erleben um seiner selbst willen.

Im Zuge der Romantik werden die Alpen vom Objekt wissenschaftlicher Betrachtung zum Medium ästhetischer Landschaftserfahrung, die Praktik des distanzierten Erforschens wird durch die Praktik des empfindsamen Betrachtens ergänzt. Gleichzeitig wird der Alpenraum zur verklärten Gegenwelt des städtischen Lebens und zur Projektionsfläche von Freiheitsehnsüchten.

Schon Albrecht von Haller entwickelt als früher Fortschrittskritiker in seinem Gedicht „Die Alpen“ eine duale Welt, in welcher er die irdische Glückseligkeit in den Alpenraum projiziert und das authentische und echte Leben der Älpler der spätbarocken Gesellschaft mit ihrem Laster und Überfluss gegenüberstellt. Jean Jacques Rousseaus ebnet dann in den 1760er Jahren durch seine Gesellschafts- und Vernunftkritik den Weg für eine frühe Alpenbegeisterung, indem er das „geräuschvolle, unruhige Leben“ in der Großstadt der Schweizer Berglandschaft entgegenhält, die „etwas Magisches und Übernatürliches hat, das Geist und Sinne bezaubert“.

Mit Rousseau wird die Natur zum Ort, an dem die gesellschaftliche Zurichtung des Menschen kurierbar ist und gleichzeitig zu einem Raum für sinnlich-ästhetische Erfahrungen. Auch Johann Wolfgang von Goethe wird von der Schweizbegeisterung seiner Zeit mitgerissen und besteigt 1779 den Dole, um danach enthusiastisch von einem neuen optischen Phänomen zu berichten: dem Alpenglühen.

Dabei gilt es zu bedenken, dass zur Zeit Rousseaus die Durchquerung der Schweiz eine ernste Unternehmung ist, kaum weniger exotisch wie ein Vorstoß ins zentrale Afrika und verbunden mit Mühsal, Gefahren und Schrecken: Es gibt nur verlauste Unterkünfte und schlechte Bewirtung, die Wahrscheinlichkeit überfallen, ausgeraubt oder gar ermordet zu werden ist hoch. In den Alpentälern herrscht große Armut, aufgrund des Mangels an Vitamin C und dem damit verbundenen Skorbut gibt es viele geistig und körperlich behinderte Menschen, die kaum besser leben als Tiere.

Die ästhetische Betrachtung der Alpen bedarf, ähnlich wie die Wahrnehmung des Schönen in der Kunst, einer differenzierten Sensibilität: eines Blickes, der nicht einfach vorhanden ist, sondern eingeübt werden muss. Der einheimische Älpler nimmt die Gletscherzunge nicht als „schön“, sondern als gegeben wahr, den Bauern interessiert das unfruchtbare Hochgebirge nicht. Erst durch die Praktik des kontemplativen Schauens wird aus dem bis dahin unbeachteten Ödland etwas Erhabenes oder Schönes. Während das Erhabene der Größe des Hochgebirges vorbehalten bleibt, wird das Schöne verknüpft mit alpinen Landschaftsszenerien, bestehend aus Berg, Wiese, Baum, Fels und Wasserfall. Für die Praxis des Betrachtens sind vor allem psychische Erlebniskomponenten wichtig, der Körper wird dabei ruhiggestellt, das Genussschema des Naturschönen ähnelt wiederum dem der Betrachtung von bildender Kunst. Damit verbunden sind Gefühle der Betroffenheit und des Aufgehoben-Seins in der Natur. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wird das „Bergschauen“ zum fixen Bestandteil der voyage pittoresque, der romantischen Reise in die Schweiz, deren Ziel es ist, als schön geltende Orte und idyllisch gelegene Almen aufzusuchen, um dort in kontemplativer Betrachtung zu versinken.

In der Kunst findet das romantische Naturgefühl, angefangenvon der Lyrik Hölderlins, Novalis und Eichendorffs, über Stifters Prosa bis zu Segantinis Gemälden, die Ende des 19. Jahrhundert nochmals die Einheit von Mensch und Natur beschwören, seinen Niederschlag. Erst im 20. Jahrhundert wird die Distanz des Menschen zur Natur in der Kunst ein Thema: Das berühmte Bild „Der Wanderer“ von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1922 zeigt die Entfremdung des modernen Menschen von der einst heilen Bergwelt, die den Menschen nun nicht mehr trägt.

  1. Bergsteigen

Mit der Besteigung des Mont Blanc 1786 durch Saussure beginnt die Phase der Erstbesteigungen der Alpenhauptgipfel. Diese endet 1865 mit Whympers Besteigung des Matterhorns und dem tragischen Unglück beim Abstieg. Federführend beteiligt an den Erstbesteigungen sind Bergsteiger aus dem viktorianischen England, der führenden Industrienation des 19. Jahrhunderts. In den Jahren 1859 und 1865, der „goldenen Zeit“ der Viktorianer in den Alpen, werden 68 Hauptgipfel der Alpen bestiegen, die meisten davon von Briten.

Als Teil einer wohlhabenden, bürgerlichen Oberschicht lernen die British sportsmenin den englischen Eliteinternaten schon früh denSportgedanken kennen. Wie andere Sportarten betrachten die Briten auch den Bergsport als eine „Schule des Charakters“, in derneben Mut und Männlichkeit auch der „Wille zum Siegen“ und der Wettkampfgeist – die Tugenden künftiger Führungskräfte – ausgebildet werden sollen. Der moderne Sport wird zum Teil eines bürgerlichen Wertekanons, der die Leistung als zentralen Wertansieht und die Wettkämpfe des Sports und die Konkurrenz im sich entwickelnden Kapitalismus für vergleichbar hält.

Edward Whymper fasst seine Motivation, die exakt dem bürgerlichen Ethos entspricht, folgendermaßen zusammen: „Wir freuen uns über die körperliche Wiedergeburt, welche Folge unserer Anstrengungen ist, wir jubeln über die Großartigkeit der Szenen, die uns vor Augen treten (…), aber mehr noch gilt die Entwicklung der Männlichkeit und die Ausbildung edler menschlicher Tugenden, des Muths, der Geduld, der Beharrlichkeit und der Seelenstärke im Kampf mit den Schwierigkeiten.“ [1]

Dieses bürgerliche Ethos ist verbunden mit der Neigung zu zweckfreiem Handeln und findet sowohl im modernen Sport wie auch in der künstlerischen Betätigung seinen Ausdruck. Während beim Botanisieren und Erforschen der Höhe der Aufstieg nur ein Mittel zum Zweck ist, wird das Bergsteigen als Sport zu einer vom Zweck befreiten Praktik, die wiederum Ähnlichkeiten mit dem Spiel hat. Damit werden die Alpen zum Spielplatz, zum playground of Europe, wie sie der britische Alpinist Leslie Stephens bezeichnet.

Doch die Alpen als Spielplatz bleiben in den Anfängen einer kleinen, zumeist adeligen oder großbürgerlichen Elite vorbehalten. Da es für die Vertreter der Oberschicht im 19. Jahrhundert unvorstellbar ist, am Berg auf Diener zu verzichten, wird der Bergführer zu einem notwendigen Bestandteil der bergsportlichen Praktik. Nicht weil der Geführte selbst körperlich zu schwach wäre, um Pickel und Gehstock zu tragen oder Stufen ins Eis zu hacken, sondern weil es sich für einen gentlemannicht gehört, selbst die Ausrüstung zu schleppen oder niedere Tätigkeiten zu verrichten.

Das elitäre Verhalten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die British sportsmendurchaus konditionsstarke Geher sind, denn Sportarten wie das Bergsteigen dienen nicht nur dazu, den Charakter zu formen, sie sollen auch den Körper kräftigen und ihn gesund erhalten. Der kraftvoll-athletisch Körper ist das Kennzeichen des Bürgers, durch ihn belegt er seine Leistungsfähigkeit und seine Überlegenheit gegenüber dem als „degeneriert“ und schwächlich geltenden Körper des Adeligen. Der gesunde Körper dient darüber hinaus der Reproduktion gesunder Nachkommen und damit dem Erhalt der Klasse, denn die Herrschaft des Bürgertums ist auch eine physische Angelegenheit.

Während Darwin die Galapagosinseln erforscht und Marx „Das Kapital“ schreibt, verlassen die betuchten Viktorianer den „Moloch Stadt“ und suchen die Schweizer Berge auf. So zählt Manchester als Zentrum der Baumwollindustrie 1850 bereits 400.000 Einwohner. Damit einhergehen schlecht Luft, üble Gerüche, soziales Elend und die Bildung von Slums. 1857 wird der berühmte British Alpine Club als erster Alpenverein der Welt gegründet, errepräsentiert das Who´s Whoder viktorianischen Bergsteiger. Auch an den Gründungen exklusiver bürgerlicher Vereine in anderen Sportarten, zumeist nach dem Vorbild der englischen clubs, sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts British sportsmenmaßgeblich beteiligt. Das Ende des Neoabsolutismus im Kaisertum Österreich und der Restauration im Deutschen Bund führt zu einer Liberalisierung des Vereinswesens, es ermöglicht die Gründung des Österreichische Alpenvereins im Jahr 1862 und des Deutschen Alpenvereins im Jahr 1869.

Nach der Phase der Erstbesteigungen und parallel zum Ausbau des Straßenverkehrsnetzes und der Eisenbahnverbindungen in den Alpen verbreitern sich die alpinistischen Praktiken. Die Ausgangsorte für Bergtouren werden durch die Eisenbahn leicht und schnell erreichbar, so gibt der Alpenverein in Vorarlberg nach der Eröffnung der Vorarlberger Bahn 1872 ein „Verzeichnis für Touren und Spaziergänge“ heraus, deren Ausgangspunkte Eisenbahnstationen sind.

1880 wird der Gotthardt-Eisenbahntunnel fertig gestellt, 1882 die Gotthardtbahn eröffnet. Die leichtere Zugänglichkeit entlegener Täler und der Bau mondäner Hotels, wie beispielsweisein St. Moritz im Engadin, führen Ende des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung eines bürgerlich-adeligen Alpentourismus. Während Julius Kugy um die Jahrhundertwende in gut bürgerlicher Tradition mit Bergführern an seiner Seite die Julischen Alpen erforscht, etabliert sich andernorts schon die Praktik des führerlosen Bergsteigens. Ludwig Purtscheller, einer der ersten Alleingänger, schreibt 1894: „Selbst in die entlegensten Alpenthäler hinein dringt der Pfiff der Lokomotive als Weckruf einer neuen Zeit.“

Der Bau von Bergbahnen Ende des 19. Jahrhunderts führt Bergsteiger und Hochtouristen dann direkt in die alpinen Zonen hinein: 1898 wird die Gornergratbahn von Zermatt in das Monte-Rosa-Massiv gebaut, 1903 die Jungfraubahn in die Eiger-Nordwand und 1906 die Zahnradbahn von Chamonix nach Montenvers und zum Eismeer. Dieses können die Damen in ihren bodenlangen Röcken, ausgestattet mit großen, runden Hüten und Sonnenschirmen, und die Herren mit Zylinder und Jacket von Aussichtspunkten am Gletscherrand durch eigens dafür aufgestellte Fernrohre fortan ausgiebig bestaunen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Entwicklung alpinistischer Praktiken eng an die Prozesse der Modernisierung gekoppelt ist: Erstens sowohl an die Entwicklung der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert als auch an die romantische Kritik daran und zweitens an die Urbanisierung und Industrialisierung sowie an den Ausbau des Verkehrsnetzes in den Alpen im 19. Jahrhundert.

Mit der teils gesellschaftskritischen, teils touristischen Flucht in die Gegenwelt der Berge verbunden ist von Anfang an die Nutzung der jeweils modernsten technischen Möglichkeiten wie auch die Inszenierung zentraler bürgerlicher Werte wie Mut, Männlichkeit, Gesundheit und Leistung.

  1. Klettern

Es ist das legendäre Camp IV im kalifornischen Yosemity Valley, in welchem die Anfänge des Sportkletterns als Praktik liegen, und wo in den 1970er-Jahren fernab der Alpen mit dem Freiklettern ein neuer Stilbegründet wird. Das Sportklettern wird dabei untrennbar mit einem subkulturellen Lebensweise verbunden, welchen der deutsche Bergsteiger Reinhard Karl pointiert zusammenfasst:

„Alles ist hier leicht vergammelt. (…) Jeder nimmt einen Stoff um „high“ zu werden, mindestens Marihuana. (…) Faul sein ist hier eine wesentliche Voraussetzung, um ein guter Kletterer zu werden. Die fünf Lebensessentials sind in der Reihenfolge der Wichtigkeit: 1. Klettern, 2. Sonnenbaden, 3. Essen, 4. Drogen, 5. Frauen. Das Wort „Arbeit“ kommt nicht vor.“

Die Aussteiger und Hippies im Yosemity verbinden die „Bewusstseinserweiterung“ durch Drogen mit dem Klettern als Hochleistungssport. Das Klettercamp ist, so Karl, eine Art „Ableger der Subkultur aus Berkeley und Los Angeles“, was sich neben der Suche nach der Separate Reality(Name einer Klettertour, in Anlehnung an den gleichnamigen Roman von Carlos Castaneda) in der betonten Lockerheit, der lässigen Kleidung, den langen Haaren und dem Kleinbus zeigt. Man befreit sich von Zwängen und Normen, stellt den Hang zur „wilden“ Natur und die Besitzlosigkeitostentativ zu Schau und grenzt sich von jeglicher Spießbürgerlichkeit ab.

Der so gelebte „kalifornische“ Lebensstil ist das Zentrum der Counter Cultureder 1970er-Jahre, die um die postromantische Idee der Selbstverwirklichung kreist. Der Protest der Gegenkultur richtet sich sowohl gegen die Entfremdung von der Arbeit als auch von der Natur und stellt das instrumentelle und emotionslose Weltverhältnis der Moderne in Frage. Dominante Werte der Nachkriegsgeneration wie Haus, Auto und Schrebergarten werden ebenso infrage gestellt wie die bürgerliche Familieoder der an der Norm orientierte „ordentliche“ Lebenslauf. Dem werden postmaterialistische Werte wie Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung entgegengehalten. Die damit verbundene alternative Ethik findet ihren Ausdruck in der Friedensbewegung, der Frauenbewegung, der Naturschutz- und Anti-Atomkraftbewegung und führt in weiterer Folge zur Gründung von „grünen“ Parteien.

Die enge Verbindung von Wertesystem und Kletterpraktik betont auch Wolfgang Güllich, einer der führenden Sportkletterer der 1980er-Jahre: „Sportklettern bedeutet nicht nur Konkurrenz, Wettkampf und Leistung. Der Sport ist auch geprägt durch andere Werte.“ Er bietet die „Chance jenseits der körperlichen Leistung eine phantastische Natur zu erleben, in interessante Länder zu reisen, mit Freunden im Café herumzuhängen (…). Insofern wird der Sport auch Lebensstil.“ Und: „Man geht nicht nach dem Klettern einen Kaffee trinken, sondern Kaffeetrinken ist Teil des Kletterns.“

Kreativität und Selbstverwirklichung zeichnen für Güllich das Leistungsethos des Sportkletterers aus: „Emotionen wie Zufriedenheit, das selbstgestellte Problem der Routen gelöst, die Geschicklichkeitsaufgabe gemeistert und die eigene Perfektion demonstriert zu haben“ sind zentral für ihn. Die Möglichkeit selbstgesetzte Ziele zu verfolgensowie die damit verbundenen Gefühle und körperlichen Erfahrungen würden jedoch zweitrangig, so Güllich, wenn man sich nur auf das Leistungsprinzip konzentriere, wie dies beim Wettkampfklettern der Fall sei.

Während für das Sportklettern der Lebensstil ein konstitutives Moment ist, ist für extreme Praktiken, wie dem Extrembergsteigen im Alpenraum oder dem Höhenbergsteigen im Himalaya, die Gefahr ein grundlegender Bestandteil.

Reinhold Messner prägt in den späten 1970er-und 80er-Jahren als führender Protagonist sowohl die Praktik des Höhenbergsteigens, als auch den Diskurs darüber: Die Besteigung des Everest ohne Sauerstoff im Jahr 1978 mit Peter Habeler, der Alleingang auf den Nanga Parbat ohne Sauerstoff im selben Jahr und der Alleingang auf den Everest ohne Sauerstoff im Jahr 1980 sind ebenso Alpinismusgeschichtewie Messners Erfahrungsberichte über den „Grenzbereich Todeszone“ und  das „Leben am Limit“ (beides Buchtitel) oder die „Kunst des Überlebens in wirklicher Gefahr“. Der „Abenteurer“, der sich die „Freiheit (nimmt) aufzubrechen, wohin ich will“,zitiert Hölderlin und greift bei seiner Selbstbeschreibung auf romantische Freiheitsmotive zurück. Aufgrund seiner herausragenden Taten wird Messner die Autorität zugebilligt zu definieren, was als die alpinistische Praktik oder als derAlpinismus gilt: nämlich das selbstverantwortliche, souveräne Handeln angesichts einer extrem schwierigen Herausforderung. Die hier auftauchende Vorstellung eines freien, autonomen Subjekts, das sich bewährt, indem es Schwierigkeiten bewältigt, ist, ebenso wie der Freiheitswunsch, keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern steht in der Tradition der bürgerlichen Ethik und des Sports als „Schule des Charakters“.

Auch der Soziologe Karl-Heinz Bette sieht in den alpinen Bewältigungsgeschichten einen Rückgriff auf den bürgerlichen Mythos von der Handlungsfähigkeit eines souveränen Subjekts. Die extremen Praktiken stellen für ihn Versuche der Selbstermächtigung dar, mittels derer die Akteure Erfahrungen der Machtlosigkeit kompensieren wollen. Das moderne Individuum ist im Alltag Organisationen unterworfen, die sein problemloses Funktionieren garantieren und sein Verhalten bis ins Kleinste reglementieren. Um diesen Gefühlen der Machtlosigkeit zu kontern, begeben sich Extrembergsteiger in lebensgefährliche Situationen: Allein und ohne zusätzlichenSauerstoff in der Todeszone versucht das Subjekt, demonstrativ seine Autonomie und die Macht über das eigene Handeln zurückzugewinnen. So begründet Messner seinen Alleingang auf den Nanga Parbat 1978 folgendermaßen: Es ist der „Wunsch, alles ganz allein zu machen, etwas alleine zu Ende zu führen. Es ist (…) ein starkes Bedürfnis nach Autonomie und Autarkie.“ Doch die Versuche, die Macht über das Handeln zurückzugewinnen, glücken nicht immer, was zu den tragischen Todesfällen führt, die ebenso wie die spektakulären Erfolge Teil der Alpinismusgeschichte sind.

Mit der Definition des Alpinismus als extreme und gefährliche Praktik wird dieser auf das Handeln einer kleinen, elitären Gruppe zumeist männlicher Extrembergsteiger eingeschränkt, die in der auf Risikoreduktion bedachten Wohlstandsgesellschaft der 1980er-Jahre maximale Aufmerksamkeit bekommen. Gleichzeitig sind die wenigen „Extremen“ aufgrund ihres Außenseiterstatus einem großem Legitimitätsdruck ausgesetzt und müssen sich ständig für ihre „unvernünftigen“ Praktiken rechtfertigen.

Doch sowohl die Gefahrenethik Messners als auch die subkulturelle Sportkletterbewegung haben nicht nur einen Gegencharakter, sondern auch einen Entsprechungscharakter. Die Akteure gehen zwar auf Distanz zur modernen Gesellschaft, nutzen dafür  aber zugleich die modernste Technik: Nur mit dem Flugzeug können die entlegensten Winkel der Erde erreicht werden, nur mit der neuesten Ausrüstung und, ab den 90er-Jahren, nur mithilfe der neuesten Kommunikationsmöglichkeiten werden die außergewöhnlichen Aktionen durchgeführt. Auch wenn die Extremen den Verlust von Individualität und die Vermassung alpiner Zonen beklagen, durch ihre Vorbildwirkung und ihre Selbstvermarktung tragen sie selbst zur Popularisierung und Verbreiterung alpinistischer Praktiken bei.

  1. Die Gegenwart

In der gegenwärtigen Unsicherheitsgesellschaft(Zygmunt Baumann) gewinnen die extremen Praktiken eine völlig neue Bedeutung: Sie werden mit Kontingenz- und Risikobewältigung assoziiert, Eigenschaften, die in unsicheren Zeiten an Relevanz gewinnen, womit die Extrembergsteiger von gesellschaftlichen Außenseitern zu Vorbildern im Umgang mit Unsicherheit mutieren. Darüber hinaus wird die Außeralltäglichkeit extremer Praktiken in einer visuellen Kultur zunehmend „veralltäglicht“. Durch die ständige Visualisierung in unterschiedlichen medialen Kontexten – in Hochglanzprospekten, Filmen, Dokumentationen oder Postings in den Social Media – verlieren sie gleichzeitig ihre Exklusivität.

Ebenso haben ehemals subkulturelle Praktiken wie das Sportklettern ihre Nischenposition verloren und sind zum Bestandteil des Lebensstils der Mittelschicht geworden. Sie passen perfekt in eine Gesellschaft, die, wie der Soziologe Andreas Reckwitz aufzeigt, in gut romantischer Tradition permanent auf der Suche nach  außergewöhnlichen sinnlich-ästhetischen oder werthaltigen Erlebnissen ist: Was icheigentlich bin, zeigt sich in meinen Praktiken und Erlebnissen, in dem, was ich gerne und mit Leidenschaft tue.

Tatsächlich haben heute Wandern, Klettern, Skitourengehen oder das Reisen abseits „ausgetretener Pfade“ für viele Menschen eine identitätsstiftende Funktion. War es in den 1970ern nur einigen alternativen Globetrottern vorbehalten, mit dem Fahrrad durch die Alpen zu reisenoder durch die Mongolei zu wandern, so stellen diese Praktiken heute einen globalen Trend dar, der von Vereinen und kommerziellen Anbietern aufgegriffen, mit Komfort angereichert und unter fachkundiger Begleitung durchgeführt wird.

Die singulären Erfahrungen dienen im digitalen Zeitalter jedoch nicht nur der Selbstherstellung, sondern auch der eigenen Profilbildung und der Sichtbarwerdung im weltweiten Netz. In Echt-Zeit online gestellte Selfies oder Handyfilme in spektakulärer alpiner Umgebung garantieren Links und Likes und erzeugen jene Aufmerksamkeit, die in den digital communitiesmittlerweile zu einem heißumkämpften Gut geworden ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Vielfalt und Differenzierung alpinistischer Praktiken noch niemals so hoch war wie heute. Jenseits der bereits dargestellten traditionellen Motive lassen sich gegenwärtig drei weitere dominante Motive ausmachen:

Sportlich-leistungsorientierte Motive: Der Leistungs- und Wettkampfgedanke steht, wie aufgezeigt wurde, in der Tradition des modernen bürgerlichen Sports. Für diesen sind weder das Moment der Gefahr noch ein spezifischer Lebensstil grundlegend, sondern die messbare Leistung und der Leistungsvergleich im Wettkampf. Der sportliche Aspekt zeigt sich in Reinkultur im Wettkampfklettern, aber auch in Bergläufen oder Mountain-Bike-Rennen und in Praktiken, die auf sportliche Rekorde abzielen wie Speedbegehungen oder „Enchainments“. Im Zentrum der sportlich-leistungsorientierten Praktiken steht ein klares Regel- und Kontrollsystem: Wettkampfbedingungen, die Messung von Höhenmetern oder Streckenlängen pro Zeiteinheit oder die Bewältigung vorgegebener Schwierigkeitsgrade. Durch das Erbringen sportlicher Leistung und den Wettbewerb mit anderen werden die zentralen Werte der spätmodernen Gesellschaft reproduziert und inszeniert.

Postromantisch-naturbezogene Motive:In der Traditionslinie der Romantik stehend wird der alpine Raum als Gegenwelt zu einer stark beschleunigten, wettbewerbsorientierten und technisierten Gesellschaft aufgefasst, er wird zum Ort der Rekreation und Regeneration. Damit verbunden sind sinnlich-ästhetische Erfahrungen: das Erlebnis des Sonnenaufgangs auf einem Berggipfel; die Wanderung durch ein einsames Gebirgstal; der Blick über die Gipfel, die aus dem Nebelmeer ragen; das Klettern über dem Meer in der Abendstimmung. Bei diesen Resonanzerfahrungen (Hartmut Rosa) nimmt man den Wind, den Nebel, die Hitze und Gerüche intensiv wahr, fühlt sich frei und gleichzeitig aufgehoben in der Natur.

Verbunden mit dem naturbezogenen Motiv ist die Sensibilität für die alpine Natur als Umwelt für das eigene Handeln und für die Labilität ökologischer Gleichgewichte. In der alpinistischen Tradition des Botanisierens wird für den Schutz und den Erhalt der Vielfalt von Fauna und Flora im alpinen Raum eingetreten und Kritik an der zunehmenden Verbauung und Kommerzialisierung alpiner Landschaften geübt.

Körper- und leiborientierte Motive:Wie einzigartige Naturerfahrungen haben auch besondere Körpererfahrungen eine sinnlich-ästhetische Dimension: der einzigartige move beim Bouldern, der nach zigfachem Probieren gelingt; das experimentelle Ausprobieren neuer BewegungsmusterKlettern oderdas federleichte Schwingen im Pulverschnee stellen ein Gegenprogramm zur alltäglichen Körpernutzung dar. Der Orientierungssinn, der Gleichgewichtssinn, das kinästhetische Empfinden werden gefordert, Hände und Füße, die im Modernisierungsprozess an Bedeutung verloren haben, sind wichtig und stellen ein intensives Verhältnis zur Welt her. Der Körper wird dabei als Leiberfahren: Während der Körper das ist, was nach außen hin sichtbar und angreifbar ist, bedeutet die leibliche Erfahrung die Innenwahrnehmung des Körpers: der Leib bin ich selbst.

Für Praktiken, in denen intensive leibliche Erfahrungen eine zentrale Rolle spielen, sind weder die sportliche Leistung, noch die alpine Gefahr, noch der Berg als Naturraum ein konstitutiver Faktor: Leistung, Risiko und Natur können Dimensionen dieser Praktiken sein, müssenes aber nicht. Praktiken wie Klettern und Bouldern in Hallen oder anderen künstlichen Anlagensind völlig von der Naturerfahrung entkoppelt und erfreuen sich gleichzeitig immer größerer Beliebtheit. Der Boom hin zum naturfernen, „künstlichen“ Raum stellt ein völlig neues Moment in der Geschichte alpinistischer Praktiken dar, korrespondiert jedoch mit dem Trend zur Körperaufwertung in der gegenwärtigen Erlebnisgesellschaft.

Körper- als auch naturorientierte Motive machen die alpinistischen Praktiken demokratischer und führen zu einer enormen Verbreiterung derselben: War das extreme Bergsteigen fast 200 Jahre lang eine Männerdomäne, so führt die Befreiung vom Risiko als auch vom Leistungszwang dazu, dass sowohl der Anteil von Frauen als auch der Anteil von Akteuren beiderlei Geschlechts über Vierzig zunehmend steigt. Die Vielfalt an Praktiken in jeweils unterschiedlichen Varianten – vom traditionellen Bergsteigen, über das Skiitouren- und Klettersteiggehen, dem Sport- und Hallenklettern bis hin zum Wandern –  bietet vielen Akteuren unterschiedliche Anknüpfungsmöglichkeiten, verändert kontinuierlich das Gesicht „des Alpinismus“ und passt es an die gegenwärtige Gesellschaft an.

Conclusio

Der Alpinismus als Kind der Moderne trägt sowohl deren rationalistische und fortschrittsgläubige als auch deren (post-)romantische und fortschrittskritische Seite in sich. Seine Geschichte und Gegenwart sind gekennzeichnet durch eine Vielfalt unterschiedlicher und mitunter auch gegensätzlicher Motive und Praktiken. Es ist Teil des großen Erfolges des Alpenvereins, dass es ihm seit rund 150 Jahren gelingt, diese oftmals widersprüchlichen Zugänge unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen.

Literatur:

Bette, Karl-Heinrich: Zur Soziologie des Abenteuer- und Risikosports. Bielefeld: transcript Verlag 2004.

Bourdieu, Pierre: Historische und soziale Voraussetzungen des modernen Sports.
In: Kunst und Kultur. Kultur und kulturelle Praxis, Schriften zur Kultursoziologie 4. Hg. von F Schultheis und Stephan Egger. Konstanz und München: UVK Verlagsgesellschaft mbH 2013.

Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin : Suhrkamp 2018, 5. Auflage.

Berge, eine unverständliche Leidenschaft. Buch zur Ausstellung des Alpenvereins-Museums in der Hofburg Innsbruck. Hg von Philipp Felsch, Beat Gugger, Gabriele Rath. Wien/Bozen: Folie Verlag, 2007.

Schreibe einen Kommentar