Weckruf einer neuen Zeit

In: alpinwelt. Das Bergmagazin für München und Oberland,  3/2015

Technische Modernisierungsprozesse machen auch vor den Bergen nicht halt: Im 19. Jahrhundert war es die Eisenbahn, heute ist es die Digitalisierung, die den Zugang zum Bergraum erleichtert, insbesondere das Erleben vor Ort auch tiefgreifend verändert.

Verändert die Digitalisierung das Bergsteigen, weil sie selbst im hintersten Tal und am höchsten Gipfel ständige Erreichbarkeit ermöglicht und mit dem Smartphone auch der Stress von zuhause mitgenommen wird? Verunmöglicht sie das sinnliche Erleben, weil sie die Selbstinszenierung fördert und pittoreske Plätze nur mehr aufgesucht werden, um Selfies zu machen? Oder trägt sie zur leichteren Zugänglichkeit des Bergraumes bei, erleichtert die Tourenplanung und ermöglicht im Fall des Unfalles eine schnellere Rettung?

Markus Mangart

Selfie am Klettersteig; Foto W. Krainz

Der Zugang zu diesem Thema polarisiert: Entweder wir nützen die digitalen technischen Möglichkeiten so selbstverständlich, dass wir auch negative Auswirkungen nicht erkennen können, oder wir hinterfragen die aktuellen Entwicklungen kritisch, nehmen uns damit aber die Chance, das Positive daran erkennen zu können.

Um Distanz zum Thema zu gewinnen, bietet sich der Vergleich mit einer anderen technischen Innovation an, die ebenso gravierende Auswirkungen auf das Alltagsleben als auch das Bergerleben hatte wie die Digitalisierung heute: die Erfindung der Eisenbahn.

Um 1830 wurde die erste Personenlinie in England eingeführt und in weiterer Folge breitete sich das Schienennetz in ganz Europa aus. Dies führte zu einer Temposteigerung ungeahnten Ausmaßes: Im Unterschied zum Kutschenfahren zischte den Reisenden die Landschaft nun derart schnell vorbei, dass Ohnmachtsanfälle und Ohrensausen die Folge waren. Heinrich Heine berichtete 1843 anlässlich der Eröffnung der ersten französischen Eisenbahnlinie von einem „unheimlichen Grauen, wie wir es empfinden, wenn das Ungeheuerste geschieht, dessen Folgen unabsehbar sind. … Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit.“

EisenbahnDie neue Technologie der Eisenbahn veränderte nicht nur die Raumwahrnehmung dramatisch, sie hatte auch immense gesellschaftliche Beschleunigungseffekte: Für eine Strecke, für die man früher mit der Kutsche mehrere Tage benötigte, brauchte man jetzt nur mehr einen Tag, ferne Kontinente wie Indien wurden dadurch erreichbar.

Ähnlich verhält es sich mit der Digitalisierung: Die Datenautobahnen haben den realen Raum nahezu vollständig „getötet“ und führen dadurch zu einer fast schwindelerregenden Beschleunigung der Kommunikation. Wer glaubt, man könne dadurch Zeit gewinnen irrt, denn sowohl das Tempo der Handlungen als auch die Zahl derselben erhöht sich dadurch: Wurde früher ein Brief pro Woche verfasst, so sind es heute zehn Mails pro Tag.

Die Digitalisierung trägt somit zur allgemeinen Steigerung des Lebenstempos bei, und diese überträgt sich notgedrungen auf den Bergraum: Früher saß man am Gipfel und aß seine Jause; heute sucht man schöne Selfie-Plätze, schießt Fotos mit der Digi-Kamera, um diese in Blogs oder Foren stellen zu können, schickt mit dem Handy SMS oder Mails, teilt mit, wo man gerade ist und wann man wieder zurückkommt. Wer keine Chefs, Kinder oder Partner zu informieren hat, der beschäftigt sich mit den Messergebnissen des Pulsometers oder versucht, sich mit dem kürzlich erstandenen Garmit anzufreunden. Die neuen Kommunikationsformen sind keineswegs so individuell, wie man annehmen möchte, denn da die Handymasten zu und die Funklöcher abnehmen, hat sich auch am Berg der Zwang zur ständigen Erreichbarkeit erhöht. Natürlich kann technikkritisch eingestellte Zeitgenossen angesichts dieser Entwicklungen ein „unheimliches Grauen“ ergreifen.

Doch zurück zur Eisenbahn: Diese war nicht nur schneller und komfortabler als die Kutsche, sie war auch billiger und führte zu einer Demokratisierung des Reisens. Die Erschließung der Alpen mit Eisenbahnlinien und –tunnels war überdies die Voraussetzung dafür, dass das Bergsteigen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer breiten bürgerlichen Bewegung werden konnte. Mit dem Zug wurden die Ausgangsorte für Bergtouren leicht und schnell erreichbar, es kamen Wanderer und Bergsteiger in immer größerer Zahl. Der Alpenverein gab Tourenverzeichnisse heraus, deren Ausgangspunkte Eisenbahnstationen waren. Ludwig Purtscheller, einer der ersten führerlosen Bergsteiger, schrieb 1894: „Selbst in die entlegendsten Alpenthäler hinein dringt der Pfiff der Lokomotive wie der Weckruf einer neuen Zeit.“

Handy am Berg

Apps am Handy; Foto: W. Krainz

Wie einst die Eisenbahn, so erleichtern die Neuen Medien und die digitalen Geräte den Zugang zum Berg, wie einst der Pfiff der Lokomotive so sind heute das Web und das GPS buchstäblich in die entlegendsten Winkel vorgedrungen: Wer beispielsweise ein abgelegenes norditalienisches Klettergebiet aufsuchen möchte, kann sich den passenden Kletterführer online bestellen und muss nicht gleich nach der Ankunft den Ort danach absuchen, er kann auf diversen Homepages recherchieren oder sich ein App herunterladen, welches jegliche benötigte Information liefert. Falls man ins hochalpine Gelände möchte, sind Informationen über Wetterentwicklung, Schneebeschaffenheit, Gefahrenzonen, die früher kleinen Eliten, wie Bergführern, ortskundigen Bergsteigern oder Hüttenwirten vorbehalten waren, auf den Homepages alpiner Vereine, der Bergrettung und von Alpinschulen sofort verfügbar. Wer eine individuelle Wanderroute im unwegsamen Gelände planen möchte, kann dies mithilfe eines Garmits tun und sich so auch jenseits der ausgetrampelten Wege sicher fortbewegen.

Doch nicht nur der Zugang zu fachspezifischem Wissen, auch die Aufbereitung der Erfahrungen gestaltet sich mittels sozialer Netzwerke demokratischer und partizipativer: Waren vor zwanzig Jahren SpitzenbergsteigerInnen und JournalistInnen die einzigen, die ihre Bergerfolge in Special-Interest-Magazinen oder Büchern mitteilen konnten, so steht jetzt jeder und jedem die Möglichkeit offen, zu berichten, was sie oder er beim Klettern, Schitourengehen oder Trekken erlebt hat und diesen Beitrag mit Bild und Text interessant zu gestalten. In der Summe werden durch die Vorstellungen vom dem, was den Bergsport ausmacht, bunter und vielfältiger, vorher geheime Insidertipps nun der Allgemeinheit zugänglich.

Doch diese positiven Möglichkeiten haben auch ihre Kehrseiten: Viele vormals einsame Berge und Felsen werden durch die Veröffentlichung im Netz plötzlich zu Modegebieten und verlieren dadurch viel von ihrem ursprünglichen Charme. Auch die Intimität kleiner Szenen leidet mitunter darunter, dass Treffen nicht mehr face-to-face, sondern mittels Whats´App vereinbart werden. Ebenso steigen mit dem starken Fokus auf das Visuelle und der leichten Übertragbarkeit der Daten die Möglichkeiten zur Selbstinszenierung, die Grenzen, wo die Dokumentation aufhört und eine narzisstische Selbst-zur-Schau-Stellung beginnt, verschwimmen oft.

Mit der Möglichkeit der Information geht auch die Möglichkeit der Fehlinformation einher und Probleme entstehen, wenn man sich auf unqualifizierte Informationen verlässt oder verlässliche Quellen nicht von unverlässlichen unterscheiden kann, denn das Bergsteigen bleibt trotz Smartphone und GPS eine Risikosportart. Der richtige Kein HandyUmgang mit den Neuen Medien und digitalen Geräte muss demnach erlernt werden und setzt eigene Erfahrung und fachspezifisches Wissen voraus. Auch wenn mittels Handy die Bergrettung heute schneller als früher alarmiert werden kann, darf das kein Freibrief dafür sein, sich in potentiell gefährliche Situationen zu begeben. Doch wie man einst die Eisenbahn nicht dafür verantwortlich machen konnte, dass mit ihr nicht nur versierte Alpinisten, sondern auch unbedarfte Hochtouristen zu den Bergen kamen, so sollte man auch die heutigen technischen Möglichkeiten nicht für die fahrlässige oder falsche Nutzung serselben verurteilen.

Die digitale Kultur verändert nicht nur die Zugänge zum und das Verhalten am Berg, sondern auch den Diskurs darüber. Er ist einerseits demokratischer geworden, hat aber andererseits an Tiefe verloren, was sich am Offensichtlichsten bei den SpitzenbergsteigerInnen zeigt: Verfasste Reinhold Messner über fünfzig Bücher und prägte damit ein zeitgemäßes Bild des Bergsteigens, wurde Reinhard Karl durch seinen besonderen Schreibstil zur Ikone, und haben Wolfgang Güllich´s Reflexionen bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren, so sind im Gegensatz dazu für heutige SpitzenbergsteigerInnen nicht Bücher und Publikationen entscheidend, sondern Homepages, Fotos und Videos sowie die Präsenz in den sozialen Netzwerken. Hier liegt der Fokus auf dem Visuellen, dem Spektakulären und dem schnell Mitteilbaren. Da die Form den Inhalt vorgibt, finden die langsamen Formen des Schreibens, Reflektierens sowie kritische Kontroversen keinen Platz mehr.

Conclusio: Wie die Geschichte der Eisenbahn zeigt, war der Zugang zu den Bergen auch früher bestimmt von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Denn die Berge sind seit den Anfängen des Bergsteigens im 18. Jahrhundert niemals nur Gegenwelten, sondern immer auch Spiegelbilder der Gesellschaft.

Prisank Jause

Prisank, Julische Alpen; Foto: G. Obiltschnig

Doch trotz aller Auswirkungen, welche die digitale Kultur zweifellos auf das Bergsteigen hat, beruht die Praxis des Wanderns, Bergsteigens oder Kletterns primär auf dem eigenen Wissen und Können, auf der verantwortungsvollen Einschätzung der eigenen Grenzen und auf der leiblichen, emotionalen und sensuellen Erfahrung. Wenn man will, findet man auch weiterhin das Ungewisse und das Abenteuer, spürt man Sonne, Wind und Kälte, genießt den Sonnenaufgang auf einem Berggipfel und lässt sich davon im Innersten ergreifen.

Letztlich bestimmen wir selbst, ob wir die Neuen Medien und die digitalen Geräte nutzen oder nicht, ob wir am Gipfel ein Selfie machen und ein SMS verschicken oder daheim erzählen, wir seien in einem „Funkloch“ gewesen.

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