In: Kärntner Jahrbuch der Politik, 2000: Kärnten als Bergland.
Die Besteigung des Kleinglockners 1799
„Der Pfleger Joseph Kussian von Großkirchheim erhielt im Frühjahr 1799 den Auftrag, die Besteigung des Großglockners vorzubereiten. Er fand in den Brüdern Klotz, Zimmermeister aus Heiligenblut, zwei ortskundige und wagemutige Männer, die sich mit Feuereifer der gestellten Aufgabe annahmen. … Bereits bei der ersten Kundfahrt stießen sie bis unter den Kleinglockner vor ….“
Es folgten einige Versuche auf den Gipfel des Kleinglockners aufzusteigen, die aufgrund schlechten Wetters scheiterten. Schließlich konnten am 25. August 1799 die Brüder Klotz und der Physiker und Botaniker Sigismund von Hohenwart den zweithöchsten Punkt des Glocknermassivs erreichen. Die vielen Kundfahrten auf den heimischen Berg der Superlative sowie die Vorarbeiten dazu, wie der Bau der Salmhütte und eines Reitweges durch das Gößnitztal, hatten sich gelohnt: „beseligt standen sie nach dem vielen fruchtlosen Mühen am Ziel ihrer Träume, auf dem Gipfel des Kleinglockners (3783m).“
Wenngleich die Besteigung des Kleinglockners als Markstein der Erschließung der Ostalpen gilt, war sie keineswegs das endgültige Ziel aller Träume, denn kurz danach ging man bereits daran, die Expedition auf den Glocknerhauptgipfel für das Jahr 1800 vorzubereiten. Waren 1799 über dreißig Personen an der großen Kundfahrt beteiligt – die der Finanzier des Unternehmens, Fürstbischof Salm von Reifferscheidt, persönlich hoch zu Roß anführte, – so wuchs die Mannschaft im Jahr darauf auf über sechzig Personen an, denn neben den Köchen, Dienstleuten, Trägern, Bauern und der persönlichen Gefolgschaft Salms folgten Wissenschafter aus aller Welt dem Ruf des am Hofe des Fürsten tätigen Herrn von Hohenwart.
Salm und von Hohenwart gelang es, die prominetnsten Forscher auf den Gebieten der Botanik, Geognostik, Astronomie, Mineralogie, Montanistik und Physik zur Erforschung der Höhe um sich zu versammeln. Fielen die Wissenszuwächse im Jahre 1799 noch eher dürftig aus, weil die Messgeräte der großen Kälte nicht standhielten, so konnten im Jahr darauf beträchtliche Erfolge im Bereich der Erd- und Naturwissenschaften erzielt werden.
Der Mensch und die Höhe
„Wer eine Höhe, einen Gipfel erreicht,
erhebt sich als souveränes Subjekt
über die gegebene Welt.“ (Simone de Beauvoir)
Die Höhe ist eine jahrtausende alte Metapher für das Spirituelle und Geistige, der Aufstieg ein Bild für Höherentwicklung. Der in die Höhe strebende Mensch erhebt sich von den Niederungen der darunter liegenden Welt, bekommt Überblick und gewinnt Kontrolle. Am Gipfel angekommen wird er – wie Simone de Beauvoir es ausdrückt – zum Souverän. War Petrarcas Bericht über den Aufstieg auf den Mont Ventoux 1336 noch eine Allegorie für den spirituellen Weg des Individuums zum Heil, so änderte sich die symbolische Bedeutung desselben durch die frühen Erstbesteigungen. Mit ihnen ging der Aufstieg des modernen Menschen einher.
Dem Menschen der Neuzeit gelang es nicht nur körperlich den Gipfel zu erreichen, kraft seiner Vernunft setzte er sich parallel dazu symbolisch auf den höchsten Punkt. War der Überblick von oben und die Macht Welt zu ordnen vorher göttlichem Willen vorbehalten, ringt der Mensch nun Gott die höchste Position ab. Er wird zentral. Der Mensch nimmt die Rolle des Welterklärers für sich in Anspruch und gibt „allem Sein das Maß“(Heidegger), indem er es einzig auf sich rückbezieht.
Die Höhe zu erforschen wird im Kontext des späten 18. Jahrhunderts zum Symbol der Selbst-Erhebung des Menschen über seine natürliche Umwelt. Folge der Loslösung, Unterordnung und Beherrschung einer vorher buchstäblich als unberechenbar geltenden Natur ist, dass der neuzeitliche Mensch sich nicht mehr als Teil eines ganzheitlichen Systems empfindet. War das Ich vorher unauflösbar mit der Welt verbunden, so treten Welt und Ich nun auseinander. Noch heute sind im verantwortungslosen Umgang mit der Natur und der Verschwendung natürlicher Ressourcen die Spätfolgen des mit der Aufklärung aufkommenden Anthropozentrismus sicht- und spürbar.
Spätestens in der Postmoderne wird die totalitäre und instrumentalisierende Kraft der Vernunft kritisch relativiert und die „großen Erzählungen der Moderne“, wie Lyotard die Etablierung der naturwissenschaftlichen Weltsicht ironisch bezeichnet, entpuppen sich als Geschichten von Herrschaft und Kontrolle.
Die Herrschaft der Zahl …
Der Schweizer Forscher Horace-Bénédicte de Saussure besteigt 1789 den Mont Blanc, er vermißt, ordnet, klassifiziert und umhüllt den Berg mit einem Netz von Zeichen.
„Was ich bereits gesehen hatte und noch mit der größten Deutlichkeit sah, war das Ganze von allen erhabenen Spitzen, deren Organisation ich schon längst zu kennen, gewünscht hatte.“
Sofort zückt er Kompass und Winkelmass und geht daran, die gesehenen Spitzen zu vermessen. Es ist die „Herrschaft der Zahl“, welche den Umgang mit der Höhe charakterisiert. Koordinaten, Abmessungen, topografische Linien treten hervor, der Berg wird in einem abstrakten Raster aufgehoben. Die unter enormer Anstrengung hinauf geschaffenen Messbaromter, Thermometer, Haarhygrometer, Elektrometer, Messtische und Messketten dienen dazu, am Berg eine Ordnung zu etablieren, die seiner voluminösen Masse des Berges gleichzeitig vorausgesetzt wird. Vom konkreten Raum losgelöste Vorstellungen verdrängen Mythen und Legenden, welche im Gebirge ihre letzten Refugien fanden.
… und das Ende der Mythen
Berge galten über Jahrtausende hinweg als heilig, in den unterschiedlichsten Kulturen dienten sie als Wohnsitze und Übergänge zum Reich der Götter oder als Orte göttlicher Offenbarung. Bis in die frühe Neuzeit galt das Betreten des Höhenraumes entweder als frevelhafter Akt oder als schlichtweg uninteressant. Kein antiker Mensch hätte in einer Bergtour einen wie immer gearteten Sinn erkennen können.
Wenn die Höhe begangen wurde, dann für Kriegszwecke, berühmtestes Beispiel hierfür ist die Überquerung der Alpen durch Hannibal. Titus Livius beschreibt dieselben in seinem Bericht darüber als „scheußliche Erscheinung“ einer „vor Frost starrenden Natur“.Noch im Mittelalter stellte die lebensfeindliche und unfruchtbare Höhe einen locus horribilis, die Antithese des lieblichen locus amoenus dar, sie war Metapher für die Leere und das Nichts.
Selbst nach der Entdeckung Amerikas blieb das Gebirge in Europa terra incognita. Noch im 16. Jahrhundert wurden nicht die Gipfel der Berge, sondern nur die zum Reisen notwendigen Übergänge im Gebirge benannt. Im unerschlossenen Höhenraum blieb Platz für Mythen, Märchen und Legenden. Die Volkssagen des Mittelalters siedeln das Hexenwesen rund um den Berg an, in den Märchen ist das Bergesinnere oft mit unermesslichen Reichtümern und verborgenen Schätzen gefüllt, in den Sagen wird die Höhe mit unheimlichen Gestalten wie Drachen, Berggeistern, Riesen und halb menschlich, halb tierischen Wesen bevölkert. Auch frühe Formen der Wissenschaft beziehen ihr Wissen noch teilweise aus alten Mythen; so warnte der Züricher Universalgelehrte Konrad Gesner 1555 noch vor der Besteigung des Pilatus bei Luzern, weil der dort wohnende Drache nicht gestört werden durfte.
Ebenso rankt sich um die Entstehung des Glockners eine Sage: Hybride Menschen sollen um die üppigen Wiesen der Gegend um Glockner und Pasterze gelebt haben. Doch sie wußten die Reichtümer der Natur nicht zu schätzen. Ein armer Zauberer, den die Reichen des Ortes abgewiesen hatte, verfluchte diese und seinem Fluch wurde durch eine höhere Gewalt Rechnung getragen: die grünen Täler füllten sich mit Unmengen von Schnee, die reichen Wiesen wurden vergletschert und aus den zu den Stein gewordenen Besitzern derselben entstand die Glocknergruppe.
Während der mittelalterliche Mensch sich niemals in die von Geistern bevölkerten Gefilde der Höhe vorgewagt hätte, scheint der mit Barometern und Höhenmessgeräten ausgestattete Mensch des 19. Jahrhunderts vollständige Kontrolle über das NaturFremde gewonnen zu haben. Im Zuge der Ordnung der Höhe werden die anderen, welterklärenden Wahrheiten von Mythen, Sagen und Legenden über den Berg verworfen.
Vom Rauhen und Wilden zum Schönen und Guten
„In den Bergen ist die Freiheit!“ (Friedrich Schiller)
Zeigte sich im Forschungsalpinismus das Auseinandertreten von Welt und Ich, so wird in der Romantik versucht, diese Spaltung wieder aufzuheben. Nach seiner Einordnung in ein Netz abstrahierender Zahlen und Linien wird der Berg nun quasi vom Gefühl in Besitz genommen. Die Natur habe als Spiegel der inneren Gefühle zu dienen, so Rousseau. Als Projektionsfeld für bürgerliche Innerlichkeit bot sich der semantisch noch kaum aufgeladene Alpenraum an. Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung, der Alpenraum sei ein notwendigerweise zu überwindendes Hindernis, beginnt Albrecht von Haller die „Schönheit“ der Schweizer Berge zu rühmen.
Alles was vorher rauh und wild war, verwandelt sich in der Romantik zum Schönen, Guten und Unverfälschten. Das Gebirge wird zur Antipode und zum idealisierten Sehnsuchtsraum der bürgerlichen Gesellschaft, der Berg zum Ort der Selbstfindung und die Schweizer Alpen zum Pflichtprogramm für Reisende. Aus dem frühen Forschungsalpinismus, der romantischen Sehnsucht nach den Bergen und einer damit einhergehenden Ästhetisierung der Höhe entsteht um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Alpinismus als eigenständiger Diskurs; und aus ihm tritt die heute als solches bekannte Figur des Bergsteigers hervor.
Kämpfen und Fallen
War die Besteigung der Kleinglockners noch durch „forschende Neugier“ motiviert, so tritt im 19. Jahrhundert an ihre Stelle die Lust zur Eroberung des Fremden. Der vorher nur indirekt sichtbar gewesene Wille zur Unterordnung der Natur, findet im kriegerisch aufgeladenen alpinistischen Wortschatz nun bildhaften Ausdruck.
Für den Engländer Whymper wird die Besteigung des Symbolberges der Westalpen 1865, zum „Kampf um das Matterhorn“: Whymper sprintet unter dem Gipfel in einem „Wettrennen“ gegen den Schweizer Starbergführer Croz an, um das „Matterhorn zu besiegen.“ Gemeinsam besiegen sie darüber hinaus die Nebenbuhler, die von der italienischen Seite aus versuchen, den Berg zu besteigen. Doch der Sieg wird von Whymper zu früh bejubelt. Beim Abstieg fordert der große Gegner Natur seine „Opfer“: vier Mitglieder der Mannschaft sterben, darunter auch Croz, wodurch der Abstieg zum Kampf gegen den Tod gerät.
Wie der Aufstieg des Subjekts in die Bergeshöhen hat auch der Fall vom Matterhorn Symbolkraft: im Bild des Falls wird der Höhenflug des neuzeitlichen Menschen radikal unterbrochen, die Erdanziehungskraft holt ihn zurück zum Boden. Analog dazu tun sich statt der Höhen des Geistes zunehmend die Schründe, Spalten und Gefahren der Vernunft auf. Der Fall macht metaphorisch die Ausgesetztheit des männlichen Subjekts auf seinem Weg in die Höhen des Welterklärers deutlich.
Der Bergsteiger : Mensch-Mann-Frau
Lacan, Übervater der Post-Freudianischen -Psychoanalyse, formulierte 1930 gleichermaßen prägnant wie lakonisch: „La femme n´existe pas.“Lacan meinte damit, dass die Frau im abendländischen Diskurs, d.h. in allen Bereichen des Kulturellen, nicht existiere. Nebenbei erwähnt sei, dass sich sein Bedauern angesichts dieser Feststellung durchaus in Grenzen hielt.
Auch im Bereich des Alpinismus war die weibliche Stimme zweihundert Jahre kaum vertreten. Obwohl eine „verloren gegangene“ weibliche Geschichte des Alpinismus rekonstruiert wurde und aufzeigt, dass Frauen – sofern sie über die finanziellen Mittel verfügten – seit den Anfängen durchaus tatkräftig am Berg unterwegs waren, unterließen die Chronisten alpiner Zeitgeschichte oftmals schlichtweg ihre Erwähnung. Die Frau existierte am Berg nicht, weil ihr die den Männern vorbehaltene Eroberung des freien Raumes nicht zugestanden wurde. Eine bürgerliche Frau beispielweise brauchte, um auf Reisen zu gehen, die offizielle Erlaubnis ihres Mannes.
In anderer Form an Bewegungsfreiheit mangelte es Felicité Carell. Diese wollte 1876 mit ihrem Vater das Matterhorn besteigen, scheiterte letztlich jedoch daran, dass ihre Krinoline, d.i. ein weiter Reifenrock, sich ständig am Fels verfing und drohte sie hinabzureißen. Magret Claudia Breevort bestieg 1874 die Jungfrau im Winter – eine außergewöhnliche alpinistische Leistung zur damaligen Zeit -, der Zutritt zum renommierten British Alpine Club wurde ihr als Frau jedoch verwehrt. Die Geschichte erhält ihre besondere Pointe allerdings dadurch, daß quasi als Ersatz ihre Begleithündin „Tschingel“ die Ehren einer Aufnahme erfuhr.
Die weibliche Stimme zu erheben und sich einzuschreiben in die Legenden der Höhe gelang 1978 dem Team rund um Arlene Blum. Der Frauenexpedition bestieg als „erste“ Frauen und als „erste“ Amerikaner die über achttausend Meter hohe Annapurna.
Von der KörperKunst zur Kletterwand
„Der Kletterer, der sich eine Linie durch die Wand ausdenkt, und diese mit Händen und Füßen kletternd realisiert, ist ein Künstler: sein Talent drückt sich primär in der Linie, in seinem Empfinden für seine Linie aus. Die Wahl seiner Linie sagt viel über ihn aus.“
Wo der Machtanspruch hinter die Auseinandersetzung mit dem Berg zurücktritt, lassen sich Analogien zwischen Klettern und Kunst finden. Reinhold Messner sieht in Erstbegehungen kreative Akte, weil der Kletternde sich dabei mit Händen und Füßen – wie der Maler mit dem Pinsel – auf originäre Weise in die leere Wand einschreibt.
Doch Ende der neunziger Jahre werden spektakuläre Erstbegehungen zunehmend seltener, die letzten weißen HöhenFlecken wurden bereits von Routen überzogen. Die Kreativität beim Klettern weicht der Fokussierung auf lineare Leistungssteigerung. Sogenannte „enchainements“, bei denen mehrere schwere Routen direkt aneinader gereiht werden, dienen der Erzielung neuer Spitzleistungen, bergen aber keinerlei kreatives Potential mehr in sich.
Trotz der Auffüllung des Höhenraumes mit Bedeutungen, herrscht nach zweihundert Jahren im Alpinismus Leistungsleere. Auch im vormals vom alternativen life-style geprägten Bereich des Sportkletterns bleibt angesichts der Konzentration auf Wettkämpfe wenig Raum für Selbstverwirklichung.
1999, Lienz/Osttirol, 20.00h, Beginn der Kletterperformance “Apokalypse“: Tausend Augenpaare starren fasziniert auf die mit Gitterrosten verkleidete Fassade eines Schulinnenhofs. Laut tönen Hammerschläge, zwei schwarze Särge hängen an der Mauer. Dann setzt die Musik ein und aus den Fenstern tauchen in Alu- und Plastikfolie gehüllte Gestalten und klettern am Gitterost über die Fassade. Die Szenerie wird in grellrotes Licht getaucht. Am Dach erscheint ein weissgekleidete Frau und besingt in lateinischen Versen den bevorstehenden Weltuntergang. Ein schwarzgekleideter Mann mit Gesichtsmaske schüttet aus dem eingeschlagenen Fenster Farbe auf die Kletternden.
Mittels einer phantastische Choreografie aus Licht, Klang, Farbe und Bewegung wird die Kletterwand mit neuen Bedeutungen versehen. Neben der künstlerischen Inszenierung kommt es dem Aktionisten Dieter Remler darauf an, gesellschaftskritischen Inhalten zu vermitteln. Mit seiner Kletterperformance „Apokalypse“ drückt er seine Besorgnis über Umweltverschmutzung, Maßlosigkeit, Konsumgier und die Zerstörungswut des Menschen aus.
Ich und Welt werden zueinander in Bezug gesetzt und mittels des Aktionismus eine Gegenschrift zur 1799 begonnen Eroberung des Fremden der Natur entworfen. Auf der Kunstwand, mit dem Körper.
conclusio
Der Berg – von 1799 bis 1999. Auf den Versuch Über-blick zu gewähren, wurde in diesem kleinen Rundgang bewusst verzichtet. Vielmehr wurden die schmaleren Pfade willkürlich herangezogener Beispiele zum Thema „Berg“ gewählt.
Nicht loslösbar von diesem Text sind meine persönlichen Erfahrungen mit und auf dem Berg. Beim Klettern, beim Schitourengehen, beim Wandern und im Umgang mit Menschen, die dabei sind, das Bergsteigen für sich entdecken.
Erschienen in: Kärntner Jahrbuch der Politik, 2000: Kärnten als Bergland.