In: Sport Studies hrsg. von Matthias Marschik, Rudolf Müller, Otto Lenz, Georg Spitaler. Wien: facultas Wut UTB 2009.
Der Sprung vom Eiger
Die 1900 Meter hohe Nordwand des Eigers, die berühmteste der drei großen Nordwände der Alpen: Gletscher, schneebedeckte Felsen, tiefblauer Himmel. Im Jahr 2001 stürzen sich zwei Männer über diese Wand in die Tiefe, im Video „Eiger B.A.S.E.“ ist der Sprung festgehalten. Der Österreicher Hannes Arch springt aktiv von einem Felsköpfchen weg, hebt gleichzeitig Arme und Beine und bringt seinen Körper in eine horizontale Lage. Der Schweizer Ueli Gegenschatz tut es ihm gleich, er hat zusätzlich einen wing suit an, einen winddichten Anzug, der die Sturz- und Flugzeit seines Kollegen, die zwanzig Sekunden beträgt, auf eineinhalb Minuten verlängert und ihn wie eine große blaue Fledermaus aussehen lässt. An seinem Fuß steigt eine rote Rauchfahne empor, welche seine Fluglinie in der Luft nachzeichnet. Man sieht wie die beiden Körper die Wand waagrecht entlang hinunter fallen, der Sprung wird durch Zeitlupe verlängert und wiederholt aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt.
Die beiden Körper werden extrem beschleunigt, dennoch hat der Sprung nichts gemeinsam mit einem unkontrollierten Absturz, er gleicht vielmehr einem Flug. Während der Fall mit Kontrollverlust und menschlichen Urängsten verknüpft ist, symbolisiert der Flug die Leichtigkeit, mit der sich Götter und Engel, befreit aus den Fesseln der Schwerkraft, in der Luft bewegen. Von der Luft getragen zu werden, bedeute, sich absolut frei zu fühlen, sagt Hannes Arch.
Kurz bevor sie am Boden aufprallen würden, ziehen Hannes und Ueli die Leinen ihrer Fallschirme und landen sanft in der Winterlandschaft. Sie sinken in den Schnee, umarmen sich, strahlen vor Freude. Hannes betont im Video den „wunderschönen Tag hier am Eiger“ und beschreibt den Sprung als „unvergleichbares, als Wahnsinns-Erlebnis“.
Eiger B.A.S.E. endet mit einem Goethe-Zitat: „Zum Augenblicke möchte ich sagen:/Verweile doch, du bis so schön./Im Vorgefühl von solchem Glück,/genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“
Mit dem Zitat rücken die Springer den Erlebnischarakter ihres Tuns in den Vordergrund, zum Thema Risiko meint Hannes: „Ich springe nur dann runter, wenn ich weiß, es geht gut. Ich würde nicht springen, wenn der Ausgang unbestimmt wäre, und ich es sozusagen darauf ankommen ließe “, und: „Die Bedingungen müssen stimmen, dann kann da jeder, der sich traut, herunter springen.“ Letztlich gine es bei Aktionen dieser Art darum, „ein Projekt umzusetzen“, oder etwas romantischer ausgedrückt, „einen Traum zu leben“.
Zu Schweben, jenseits der Schwerkraft, ungebunden und locker, mit dem einzigen Ziel das Glück und den intensiven Moment zu genießen – die Umkehr all dessen, was mit den Mühen und Plackereien des alltäglichen Lebens verbunden ist, aber sich damit gleichzeitig in Gefahr zu bringen, ausgesetzt zu sein und zerbrechlich zu werden: Beides charakterisiert den Zustand des Subjekts in der Postmoderne und beides zeigt sich bildhaft in „Eiger B.A.S.E.“.
Die Postmoderne
Der Base Jumper, der mit seinen Möglichkeiten experimentiert und systematisch die Progression ins Unbekannte wagt, bilde, so die Kulturwissenschafterin Helga Peskoller, „in aller Schärfe die Experimental-Existenz des modernen Menschen ab und vermutlich noch sein Ende.“ Sich selbst „erfinden“ zu können, gleichzeitig jedoch die stabilisierenden Sicherheiten der traditionsorientierten prämodernen Existenz zu verlieren – dies kennzeichnet den Menschen der Moderne. Ist die moderne Grundhaltung noch charakterisiert durch die Klage, ein Leben in Möglichkeiten bewirke eine „Krise der Lebensfreude“, Orientierungslosigkeit und Werteverlust seien die Folge der Auflösung vorgegebener Identitäten, so betont die Spätmoderne oder Postmoderne die Freiheit, die aus der Vielfalt an Optionen erwächst.
Die Postmoderne habe, so die Vergnügungstheoretikerin Gerda E. Moser, einen lustvoll-hedonistischen Charakter, der die vorhandene Wertevielfalt im Sinne eines Sowohl-als-auch erlaube und nicht in ein rigides Entweder-oder-Schema zu pressen versuche. Da der eine Lebenssinn nicht mehr vorgegeben ist, wird er hergestellt: durch die Mannigfaltigkeit und Unterschiedlichkeit des Erlebens. Der Kultursoziologe Gerhard Schulze dokumentierte Ende der 1980er-Jahre die für die Postmoderne bezeichnende Lebensauffassung. Im Gegensatz zum Lebensmotto „Schaffe, schaffe Häusle baue“ der Nachkriegsgesellschaft, ginge es nun darum, so Schulze, sich ein „schönes“, das bedeutet ein angenehmes, spannendes, interessantes Leben zu schaffen. Damit verbunden war ein gesellschaftlicher Individualisierungsschub. Die Gegensätze von Konformität und Abweichung wichen einem „flexiblen Normalismus“ (Waldschmidt), Normalität ist in der Postmoderne angesichts der Vielfalt an Lebensformen vorstellbar als Kontinuum, auf dem vieles möglich ist.
Mit der Individualisierung ging jedoch eine höhere Krisenanfälligkeit des Einzelnen einher. Der Verlust traditioneller Bindungen bewirkte eine stärkere Abhängigkeit von der Erwerbsarbeit, und damit vom Markt. Doch gerade dieser Bereich büßt zunehmend seine ehemaligen Sicherheiten und Schutzfunktionen ein. Der Soziologe Ulrich Beck beobachtete zeitgleich mit Schulzes Beschreibung der Erlebnisgesellschaft die Zunahme von „flexibler, pluraler, dezentraler Unterbeschäftigung“, da das Wohl der Ökonomie nicht mehr mit der Maximierung des gesellschaftlichen Wohlstandes verknüpft wird. Bereits in den 1980er-Jahren wurde in allen hoch- entwickelten Industrieländern mit dem Umbau des Wohlfahrtsstaates begonnen, und die vom Staat bis dahin übernommene Verantwortung für gesellschaftliche Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Armut zunehmend den einzelnen Individuen übertragen.
Mit den steigenden Unsicherheiten im 21. Jahrhundert gehen zahlreiche Aufrufe an den Einzelnen einher, das persönliche Engagement zu erhöhen: Vom „lebenslangen Lernen“ über selbstoptimierendes Gesundheitsmanagement bis zu Unternehmensvorgaben für MitarbeiterInnen reicht der Aktivierungsimperativ, der als Teil eines neoliberalen Regierungsprogramms zu dechiffrieren ist. „Jeder ist seine Glückes Schmied“ lautet das dahinter liegende Motto, äußere Determinanten wie konjunkturelle Schwankungen der Wirtschaft, Familienherkunft, lebensgeschichtliche Umstände werden dabei ausblendet.
Unternehmerisch zu handeln wird im neoliberalen Diskurs zur Handlungsmaxime. Diese verdichtet sich in der Figur des unternehmerischen Selbst, welches als Idealfigur Angebote und Anweisungen zum Verhalten unter Bedingungen der Ungewissheit gibt. Demnach solle das Individuum autonom und selbstbestimmt sein, risikofreudig Entscheidungen treffen, sich flexibel verhalten, mobil sein, innovativ und kreativ agieren, und seine menschlichen Beziehungen und seine Freizeit im Sinne der Optimierung seiner Ressourcen für die Berufswelt nutzen.
Das unternehmerische Selbst bezeichnet dabei keine realen Personen, vielmehr stelle es, so Bröckling, eine „Realfiktion“ da. Am Beispiel des unternehmerischen Subjekts zeigt sich, dass neoliberale Imperative und Regierungstechnologien auf das Subjekt nicht mehr direkt disziplinierend einwirken, sondern versuchen, es indirekt mittels Selbsttechniken zu steuern. So kann das „produktive Feld der Macht“ bis in die letzten Verästelungen der alltäglichen Lebensführung seine Wirkung entfalten. Dennoch können Steuerungs- und Regierungstechnologien das Subjekt und sein Verhalten niemals vollständig determinieren, es bleiben ihm stets mehrere Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten offen.
Inwieweit es dem Subjekt möglich ist, angesichts einer Fülle gesellschaftlicher Mikrotechniken der Macht eine gewisse Unabhängigkeit zu erlangen, dieser Frage ging der wohl relevanteste Analytiker der Macht, Michel Foucault, in der Untersuchung antiker Selbsttechniken nach.
Diese Techniken wurden durch „eine Ethik der Sorge um sich“ bestimmt, die sich aus einer Vielzahl alltäglicher Anleitungen – von der richtigen Ernährung, körperlichen Übungen, Reflexionen, sexuellen Handlungen bis hin zur Haushaltsführung – zusammen setzte. Die individuellen Praktiken, die sich daraus ergaben, ermöglichten es dem (männliche) Subjekt, sein Leben einzigartig und in einer kunstfertigen Weise zu gestalten.
Foucault zeigte auf, dass mittels Selbsttechniken Subjekte nicht nur gesteuert werden können, sondern dass sie subversiv gegen Regierungs- und Disziplinierungstechnologien eingesetzt werden können. So wurden Selbsttechniken in den späten 1960ern von der Gegenkultur als Protesttechniken benutzt, in den letzten dreißig Jahren hat sich jedoch ihre gesellschaftliche Funktion verändert, heute sind sie wesentlicher Bestandteil einer „zum Leben in der Postmoderne notwendigen neuen Lebenskunst“ (Opitz 2004, S. 86).
Praktiken postmoderner Bewegungskultur
Betrachtet man das Feld postmoderner Bewegungskultur so stellt sich die Frage, in welcher Form einerseits gesellschaftliche Imperative und Programme am Körper andocken, um das Subjekt zu steuern, und wie die Subjekte anderseits die sich ihnen dadurch auch eröffnenden Freiräume zur Selbstgestaltung benutzen können. Das bunte Feld der Bewegungskultur unterscheidet sich vom traditionellen Sport zunächst durch eine extreme Vielfalt an Bewegungsformen samt Differenzierungen derselben auf. Beispielhaft sei hier der Bereich der Trend- und Funsportarten angeführt: Skateboarden – auf der Straße oder im „Allterrain“-Bereich, Inlineskaten – mit unterschiedlichsten Differenzierungen vom Inline Hockey bis zumFreestyle Skating, Wakeboarden, Kite-Surfen, Windsurfen, Wellenreiten, Beachvolleyball, Snowboarden – samt Rock- und Sandboarden, Freeriden, sowie Climbing, auf Felsen und Indoor oder als Bouldern.
Viele dieser Trends kommen „von der Straße“ oder entstehen in kleinen Nischen wie der Straßentanz Capuera. In den Trendsportarten liegt der Schwerpunkt zumeist auf akrobatischem Geschick, die Szenen sind geprägt von einem jungen Publikum. Auffallend ist der spielerisch-experimentelle Charakter dieser Bewegungspraktiken: Der Körper wird in neuen und alternativen Formen genützt, er wird beschleunigt, gedreht, quer gelegt, hinauf katapultiert oder – wie in den Fallpraktiken – in die Tiefe geworfen. Diese dynamisch-explorierende, manchmal auch risikoreiche Nutzung des Körpers grenzt die Akteure von der Art der Körpernutzung im Fitness-Bereich ab. Mit dem neuartigen Körpereinsatz korrespondieren alternative Formen der Raumnutzung: im Parcours beispielsweise werden städtische Räume entgegen ihrer ursprünglichen Bestimmung genützt.
Der Trendsport- und Outdoorsport-Bereich geht in manchen Bereichen nahtlos in den Bereich der Risiko- und Extremsportarten über. Viele Sportarten, wie Klettern, Canyoning, Mountainbiken, Triathlon können exzessiv oder mit erhöhtem Risiko als Extremsport betrieben werden. Die Zuordnungen zu diesem Bereich divergieren erheblich, oftmals werden kaum vergleichbare Sportarten undifferenziert miteinander verbunden: Bungee Jumpen ist beispielsweise nicht gefährlicher als Achterbahnfahren, Base-Jumpen jedoch sehr risikoreich. Opaschwoski führt als Risikosportarten neben Bungee Jumping und Fallschirmspringen, Outdoorsportarten wie Canyoning, Free Climbing (gesichert am Seil), Mountain Biken, Paragliding und River Rafting an. Bette subsumiert darunter Wüstenmarathons, Eisklettern, Höhlentauchen, Surfen, Drachenfliegen, Extremradfahren, Segeln, Höhenbergsteigen und auch Base-Jumpen. „Extrem“ kann sein, was spektakulär ist und/oder extrem beschleunigt, was möglichst lang dauert, was unkalkulierbare Gefahren enthält oder was extreme Schmerz- und Erschöpfungszustände hervorruft. Norden führt überdies als Beispiel für die Extremisierung des Sports das Verletzungsrisiko beim Skateboarden an. Aufgrund der zunehmenden Unübersichtlichkeit kann das vereinheitlichende Etikett des „Extremen“ den vielfältigen Praktiken heute letztlich jedoch kaum mehr gerecht werden.
Die hohe Diversifikation der Bewegungsformen führt dazu, dass die Bewegungstreibenden mehrere Sportarten beherrschen, diese parallel ausüben oder rasch von einer zur anderen wechseln: Outdoor-Sportler fahren mit Ausrüstung fürs
Klettern, Kajak fahren, Mountainbiken und Raften in den Urlaub; Frauen mittleren Alters sind beim Nordic Walking, bei Pilates-Kurs an der Volkshochschule oder Yoga-Abenden mit Freundinnen anzutreffen. Hand in Hand mit der Differenzierung der Bewegungspraktiken geht eine stärkere Individualisierung einher: Die/der Einzelne betreibt Sport oder Bewegung unabhängig von einem Verein, stark erlebnisorientiert, mit wechselnden Bewegungspartnern, in kleinen Gruppen oder Szenen.
Mit den Trends im Freizeitsportbereich ist eine zunehmende Kommerzialisierung verbunden, das Angebot an Bekleidung, Ausrüstungsgegenständen und Kursen wird ständig vergrößert. Denn die bewusste Wahl des richtigen Sportgerätes sowie der passenden Sportbekleidung – als „alltagsästhetische Zeichen“ – wird benutzt, um Zugehörigkeit zu einer bestimmten sportlichen Szene zu signalisieren. Daher sind am Marienplatz in München oft mehr Personen mit hochgebirgstauglichen Jacken anzutreffen als in Chamonix, der Bergsteigerhauptstadt der französischen Alpen.
Soziale Distinktion wird in den unterschiedlichen Bewegungskultur nicht mehr primär durch Mitgliedschaft bei elitären Clubs oder speziellen Vereinen erzeugt, die Möglichkeit der Teilnahme ist vielmehr gebunden an frei verfügbares Einkommen und frei verfügbare Zeit.
Hab Spaß! Bleibt fit!
In der Bewegungskultur kommt ein „Kult der Aktivität“ (Kochba) mitsamt einer Fülle von Aktivierungsapellen zum Vorschein: Jeder, der sich bewegt, zeigt, dass er aktiv ist und seinen Körper als Ressource und persönliches Kapital nützt. Die Selbstaktivierungsimperative wirken in den vielfältigen Bereichen der Bewegungskultur jedoch höchst unterschiedlich. In den Trend- und Funsportarten zeigt sich eine Form des Erlebnisanspruchs, welche Schulze als Spannungsschema bezeichnet. Hier geht es um Action, Spaß und Abwechslung, aber auch um Abgrenzung vom Biederen und Konventionellen. Dieses Bedürfnis nach Distinktion führt zu neuartigen Formen Selbstinszenierung und Körpernutzung, welche durchaus narzisstischen Charakter haben. Im Unterschied zum Subjekt der Fitnessszene modelliert sich das Trend- und Risikosport-Subjekt nicht „für den Job“ oder „für die Figur“, sondern ausschließlich „für sich“.
Im Gegensatz dazu ist der Fitness- und Wellness-Bereich geprägt durch den Imperativ zur Effizienz und zur allumfassenden Selbstoptimierung. Um „fit zu sein“ genügt es nicht, Ausdauer- und K
raftsportarten auszuüben oder Aerobic-Übungen zu machen, Fit-Sein wird zum Programm für den „richtigen“ Lebensstil. Dieser umfasst die Ernährung ebenso wie diementale Entspannung, die präventive Rückengymnastik ebenso wie die Work-Life-Balance. Aktivierung und Mäßigung, Anspannung und Wohlfühlen werden darin miteinander verbunden. Das Fitness-Konzept ist flexibel genug, um unterschiedlichste Zielgruppen in sich aufzunehmen. Es verspricht Frauen die „Idealfigur“, Männern mehr Leistungsfähigkeit, SeniorInnen den Erhalt ihrer Gesundheit.
Doch fit ist man nicht nur um der Fitness wegen, man soll damit „Fit for the Job!“ oder im besten Falle „Fit für Österreich!“ (www.fitfueroesterreich.at) werden. Denn fitte Menschen erhöhen die Produktivität ihrer Arbeitskraft und tragen dazu bei, die volkswirtschaftlichen Kosten von Bewegungs-Mangel-Krankheiten zu reduzieren. Im Fit- und Gesund-Sein drückt sich aus, dass das Subjekt seine Selbstverantwortung wahrgenommen hat, dass es bereit ist, dem Stress, dem Druck, der Umweltbelastung entgegen zu wirken. Dieser „zwanglose Zwang zur Selbstoptimierung“ (Kocyba 2004) ist verbunden mit der Distinktion all jenen gegenüber, die nicht Fit-Sein können oder wollen: biertrinkenden Coutch-Potatos, kettenrauchenden Künstlern ebenso wie ImmigrantInnen.
Der Fitness-Imperativ dient durchwegs einer Bio-Politik, welche auf die ökonomische Nutzbarmachung des Körpers abzielt. Im völligem Gegensatz zu den Effizienzsteigerungs- und Selbstoptimierungsprogrammen steht jener Bereich des Risikosports, in welchem der Sportler sein Leben bewusst und geplant aufs Spiel setzt. Wenn Hannes und Ueli vom Eiger springen, können sie trotz bester Vorbereitung das verbleibende Restrisiko nicht eliminieren. Da Gesundheit ein gesellschaftlicher Höchstwert ist (Luhmann), und es daher gemeinhin als „unvernünftig“ gilt, sein Leben freiwillig zu gefährden, kommen Risikosportler schnell unter erheblichen Legitimationsdruck. Die Gegenüberstellung von „extrem“ und „normal“ zieht unterschiedlichste Erklärungsversuche nach sich, welche bis zur Pathologisierung des Tuns führen können. Nicht so sehr das „Warum?“ sei hingegen hinterfragenswert, so Peskoller, sondern vielmehr der gesellschaftliche Umgang mit dem, was nicht „vernünftig werden kann oder will“.
Da der gesellschaftliche Prozess der Modernisierung darauf abzielt, mittels Disziplinierung und Versicherung Kontingenzerfahrungen zu eliminieren, beinhaltet der „unvernünftige“ Umgang mit dem Risiko auch eine massive Kritik an den Grundvorstellungen der Moderne (Bette). Die Akteure entziehen sich – wenn auch nur für kurze Zeitabschnitte – ostentativ dem Zugriff der fast allumfassenden Bio-Macht. Denn die produktive Macht, die das Leben verwaltet und bewirtschaftet, führe, so Foucault, gleichzeitig zu einer Disqualifikation des Todes. In dem Moment, wo die Macht ihre Zugriffe auf das Leben richte, werde der Tod – und auch die Annäherung an diesen – zum „privatesten“ Punkt der Existenz. Der Sprung vom Eiger kann demnach auch als subversive Praxis betrachtet werden: In ihm zeigt sich postmoderne Vernunftkritik ebenso, wie ein Widerstand gegen dominanierende Effizienz- und Gesundheitsimperative. Der Umgang mit Zufälligkeit und Irrtum wird hier zum Gegenstand kreativer Bewältigung.
Vom Bergsport zum Climbing
„In den Bergen ist die Freiheit!“ lässt Schiller Wilhem Tell sagen. Die Berge sind seit der Romantik utopische Gegenorte zu den städtischen Räumen und werden mit der Hoffnung auf Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen verbunden. Doch im Gegensatz zum Wunschort Berg wirken in den realen Bergräume menschenfeindliche Kräfte: Die kahlen Flächen und Felswände oder die Eis- und Schneemassen in höheren Regionen bilden ein Umfeld, das der Mensch nicht kontrollieren, und in welchem er teilweise nicht lange überleben kann. In welcher Form werden nun diese gesellschaftsfernen Räume zu Orten, an denen Regierungs- und Selbsttechniken aufeinander treffen?
Mit der gegenkulturellen Bewegung der späten 1960er-Jahre kam diesen Räumen in bestimmten Bereichen des Bergsports eine neo-romantische Bedeutung zu. Wurden die Berge in den Anfängen des Alpinismus im 19. Jahrhundert zur bürgerlichen Selbstherstellung genutzt und im Nationalsozialismus als Symbole für politische Unterwerfungsphantasien missbraucht, so entdeckten einige nonkonforme Bergsteiger sie in den 1970ern als Orte, an denen sie Selbsttechniken kritisch gegen eine als entsinnlicht und überverwaltet empfundenen Gesellschaft einsetzen konnten.Der deutsche Bergsteiger Reinhard Karl beispielsweise versuchte, sich in den Bergen der industrialisierten Gesellschaft zu entziehen. „Ihr wisst ja gar nicht, was es bedeutet, hochzuklettern. Oben zu sein, selbst wenn man Angst hat. Und die Endlosigkeit der unreparierten Autos, die alle auseinander genommen und wieder richtig zusammengesetzt werden müssen, die alle aufmich warten, und die Kunden und die Meister, dieses endlose Gewinde, das nie aufhört. Sie verdunkeln mein Leben nur noch fünf Tage der Woche, dann krieche ich wie der Luis Trenker der Preußen unter dem Auto hervor und fahr zum Battert, und da ist alles anders: Da sind die saubere Luft, der Fels, das Licht, die Wolken, die Sonne und die Sterne.“
Ähnliche Motive nennt der Südtiroler Bergsteiger Reinhold Messner: Das Bergsteigen stellt für ihn ein Gegenentwurf zum Norm-Lebensstil dar, er sieht es als Möglichkeit des Ausbruchs aus dem „Käfig, den das Industriezeitalter geschaffen hat“. Bergsteigen wird von Messner und Karl verstanden als Protest gegen die Gesellschaft, die Bergtouren haben nicht zufällig Projektcharakter. Denn das Projekt ist eine Arbeitsmethode, welche sich die Alternativbewegung aneignete, um sich damit von den Produktionsmethoden des Fordismus abzugrenzen.
Nicht nur das Bergsteigen, auch das Sportklettern, dessen Wurzeln im amerikanischen Yosemite-Nationalpark liegen, hat anfänglich Protestcharakter. Karl reist 1975 ins Yosemite Valley, um dort auf eine neue Spezies von Kletterern zu treffen. Es sind Aussteiger, Hippies und Freaks, die „von der Hand in Mund leben.“ Karl berichtet: „Alles hier ist leicht vergammelt. Marihuana, Peote Bottoms und wer weiß was noch für Drogen gehen hier um. Jeder nimmt irgendeinen Stoff, um high zu werden. Faul sein ist hier eine wesentliche Voraussetzung, um ein guter Kletterer zu werden. Die fünf Lebensessentials sind in der Reihe der Wichtigkeit: 1. Klettern, 2. Sonnenbaden, 3. Essen, 4. Drogen, 5. Frauen. Das Wort „Arbeit“ kommt nicht vor.“
Das Versprechen einer Befreiung von alltäglichen Normierungen ist hier präsent – zumindest für Männer, denn Frauen kommen bis in die 1980er-Jahre im Bereich des Klettersports lediglich als Statistinnen vor. Damit einhergeht eine Bejahung von ganzheitlichem Erleben, durch welche die strikte cartesianische Geist-Körper-Trennung hinterfragt wird. Messner als prominentester Höhenbergsteiger der 1970er und 80er-Jahre wird nicht müde zu betonen, wie wichtig ihm das „natural high“, die Selbst- und Naturerfahrung sei: „Bergsteigen heißt für mich eintauchen in die Natur, sie verstehen und mit ihr kooperieren“.
Doch das Bergsteigen und Klettersport haben in dieser Zeit nicht nur einen Gegencharakter, sondern auch einen Entsprechungscharakter (Bette) zu den Ausprägungen der modernen, rationalisierten Gesellschaft.
Die Bejahung gesellschaftlicher Normen und Zwänge zeigt sich in der extremen Selbstdisziplinierung, welche beide Sportarten kennzeichnet. Beim Höhenbergsteigen – dem Besteigen von Bergen zwischen 6000 und 8000 Metern Höhe – müssen enorme Distanzen, und Höhenunterschiede in vereisten und schneebedeckten Regionen bei Temperaturen bis zu Minus fünzig Grad bewältigt werden. Gleichzeitig verringert sich der Sauerstoffgehalt in der Luft, sodass der Körper ab der Höhe von 7500 Metern nicht mehr regenerieren kann. Unter diesen äußeren Bedingungen wird das schlichte Aufwärtssteigen zur Tortur. Messner berichtet: „Das Atmen war so anstrengend, dass kaum noch Kraft zum Weitergehen blieb. Nach jeweils zehn bis fünfzehn Schritten sanken wir in den Schnee, rasteten, krochen weiter. Ich dachte nicht viel, stieg nur automatisch. (…) Ich wollte nicht mehr gehen, kriechen, hecheln.“
Auch wenn der Körper der Höhenbergsteiger unter der dicken Schutzbekleidung vermummt ist, kommt er in der Erzählung als geschundener, leidender, erbarmungslos vom Willen instrumentalisierter zum Vorschein. Es ist nicht nur eine für sportliche Aktivitäten übliche Selbstverschwendung, die sich in dieser Form des Umgangs mit dem Körper zeigt, sondern ein „Sich zur Maschine machen“ (Gebauer 2006, S. 166), welches für den modernen Hochleistungs- und Wettkampfsport charakteristisch ist. Durch die Selbstdisziplinierung werden Fremdzwänge – Leistungsnormen modernen Hochleistungssports, die sich an der Berufswelt orientieren – zu Selbstzwängen.
Während Messner zu Beginn der 80er-Jahre noch mit dem „Wettlauf zum Gipfel“, der Besteigung aller vierzehn Achttausender beschäftigt ist, wird Karl schon klar, dass die anfängliche Selbstbestimmung in den Bergen der Fremdbestimmung durch sportliche Leistungsnormen gewichen war. „Die 400 Meter senkrechte Wand der Lalidererverschneidung oder die 1000 Meter der Courtes-Nordwand und wie sie alle heißen. Die Wände, die man alle gemacht haben muss, um als richtig guter Bergsteiger zu gelten. Niemanden interessierte es, nicht Mal mich selbst. Ich war fremdbestimmt. Ähnlich wie ich früher Autos reparieren musste, so musste ich jetzt die Bergtour X, Y oder Z machen. Eine unheimliche Kraft steckte dahinter. Morgens um sieben in die Firma zum Arbeiten, was spürte ich da für eine Müdigkeit. Aber um ein Uhr nachts über einen Gletscher zu laufen, zu einer Eiswand und sich den ganzen Tag daran hochzuarbeiten, was war das erst für ein Zwang, der die Freiheit bringen sollte.“
Auch in den gesellschaftsfernen Hoffnungsräumen der Berge kann sich das Subjekt der disziplinierenden gesellschaftlichen Macht nicht entziehen. Es zeigt sich, dass die Machtbeziehungen tief im Sozialen verwurzelt sind und keine Struktur „oberhalb“ der Gesellschaft bilden, von deren Beseitigung Karl geträumt hatte. In etwa zeitgleich verändert sich das Sportklettern vom Kumulationspunkt antikonventioneller Impulse hin zum modernen Leistungssport. Eine differenzierte Schwierigkeitsbewertung basierend auf einem komplexen Regelwerk wird eingeführt, der Fokus wird zunehmend darauf gelegt, den Variationsreichtum von Felsstrukturen zu rationalisieren und einem abstrakten Zahlenraster zu unterwerfen. Gleichzeitig wird begonnen, den – zumeist – männlichen Oberkörper systematisch zu trainieren, die Erlebniskomponente wird zugunsten der Unterwerfung des Körpers unter den Willen zurückgenommen. Die Selbstdisziplinierung wird durch strenge Diät zusätzlich verstärkt, da beim Klettern mit einem abgemagerten Körper eine Leistungssteigerung einhergeht. Der dadurch sehnig und muskulös gewordene Oberkörper wird nun – ähnlich wie im Modesport Body Building – weitgehend entblößt und demonstrativ zur Schau gestellt.
Im Laufe der 1990er Jahre weicht der Disziplinierungsdiskurs in vielen Bereichen des sich nunmehr stark ausdifferenzierenden und populär werdenden Klettersports der für die Postmoderne charakteristischen Orientierung an ganzheitlichem Erleben. Mehr und mehr prägt ein „Glücksdiskurs“ (Schulze) die Kletterszene, wodurch der Sport auch für Frauen attraktiver wird. Sieht man Chris Sharma, einem amerikanischen Spitzenkletterer zu, so fällt auf, dass seine Bewegungen mehr mit Trendsportarten wie Capuera gemein haben, als mit dem traditionellen Felsklettern. Im Video „Dreamcatcher“ klettert, oder präziser gesagt, schwingt Sharma (gesichert) entlang eines fast horizontalen Felsbandes, die Beine pendeln in der Luft, und werden mit gezieltem Körperschwung von einer Felsdelle zur nächsten geschleudert, die Hände greifen nicht, sondern schnappen weiter. Mit den neuen Körpertechniken einher gehen neue Normsetzungen (Gebauer 2006, S.174). Sharma setzt mit der Dynamisierung des Körpers neue Normen im Bereich des Kletterns, diese korrespondieren jedoch auch mit den gesellschaftlichen Programmen zur Temposteigerung und Flexibilisierung.
Während sich Sharma – durchaus rationalitätskritisch – gegen Routenbewertungen ausspricht und die rebellischen Wurzeln des modernen Klettersports vergegenwärtigt, wenn er bei Wettkämpfen Ausschlüsse wegen Marihuana-Konsums provoziert, wird das Widerständige des Risikosports zunehmend vom neoliberalen Programm vereinnahmt. Denn der Risikosportler weist – ungewollt – charakteristische Merkmale des unternehmerischen Selbst auf: Er ist ein „Spezialist für die Übernahme von Risiken und das Handeln unter Ungewissheit“ (Bröckling), ist eigeninitiativ, und realisiert ständig neue Projekte, für die er die volle Selbstverantwortung übernimmt. Die Figur des Risikosportlers mutiert in der „Ungewissheitsgesellschaft“ (Bette) von der bürgerlichen Antipode der 1970er zum gesellschaftlichen Vorbild, die kritischen Anteile und widerständigen Momente des Tuns werden größtenteils vom neoliberalen Diskurs absorbiert. Diese Vereinnahmung zeigt sich unter anderem darin, dass Risikosportler vermehrt als Werbeträger für Versicherungen und Banken fungieren, oder darin, dass der österreichische Energy-Drink Hersteller Red Bull mittlerweile sämtliche Risiko- und Extremsportarten – gemeinsam mit Fußball-, Eishockey- und Formel1-Mannschaften – flächendeckend sponsert.
Conclusio
Grenz-Erfahrungen seien eine Provokation, meint Peskoller. In der Postmoderne mit ihrer kunterbunten Vielfalt an Möglichkeiten stimmt das nur mehr eingeschränkt. Die radikale Nonkonformität eines alpinistischen „Grenzganges“ ist aufgehoben in einem flexiblen Normalismus, der viele Spielräume für den Einzelnen eröffnet, zugleich jedoch Widerstand und Kritik schwieriger macht.
Auch in den postmodernen Bewegungskulturen ist daher den vielfältigen Machtmechanismen nicht zu entgehen, da sie am Körper andocken, um das Subjekt indirekt regieren zu können. Doch zugleich mit den Imperativen eröffnet sich auch eine Differenz zwischen Anspruch und Einlösung, die das Subjekt im Sinne der antiken Selbstsorge zu einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst nutzen kann. Zu einer Form der Auseinandersetzung, die experimentell und explorierend, risikofreudig und sinnlich ist. Experimentell wie Sharmas Kletterkünste, oder erlebnisorientiert wie der Sprung vom Eiger.
In diesem Sinne kann es genügen, mit der Leichtigkeit einer großen blauen Fledermaus, für eineinhalb Minuten befreit aus den Fesseln der Schwerkraft, eine berühmte Nordwand hinunter zu segeln, einfach nur um des Erlebens wegen, für den „Genuss des höchsten Augenblicks.
Erschienen in: Sport Studies. Matthias Marschick et al (Hg), UTB, Facultas Wien 2009.