„Freund, Du hast Zeit.“

In: Alpenvereinsjahrbuch BERG 2014. Hg DAV (München), ÖAV (Innsbruck), Alpenverein Südtirol (Bozen).

Eine kulturwissenschaftliche Suche nach dem Verbleib von Erlebnis, Freiheit und Beschaulichkeit beim Bergsteigen.

Stetige Beschleunigung und enormer Leistungsdruck prägen unsere spätmoderne Gesellschaft. Wie wirken sich diese gesellschaftlichen Dynamiken auf das Bergsteigen aus? Und: Gibt es Gegenentwürfe dazu?

Freiheit

Archiv W.Krainz

Anfang der 70er Jahre ist die Kletterwelt noch in Ordnung für den legendären deutschen Bergsteiger Reinhard Karl. Fast atemlos vor Freude berichtet er den Arbeitskollegen von seinen Berg-Erlebnissen am Wochenende:
„Ihr wisst ja gar nicht, was es bedeutet, hochzuklettern. Oben zu sein, selbst wenn man Angst hat. Und die Endlosigkeit der unreparierten Autos, die alle auseinander genommen und wieder richtig zusammengesetzt werden müssen, die alle auf mich warten, und die Kunden und die Meister, dieses endlose Gewinde, das nie aufhört. Sie verdunkeln mein Leben nur noch fünf Tage der Woche, dann krieche ich wie der Luis Trenker der Preußen unter dem Auto hervor und fahr zum Battert, und da ist alles anders: Da sind die saubere Luft, der Fels, das Licht, die Wolken, die Sonne und die Sterne die über uns funkeln, wenn wir unter der Falkenwand im Freien schlafen – biwakieren.“

Karl 1

Reinhard Karl

Noch Zeit zum Atmen?
Ganz anders sieht es einige Jahre später bei Reinhard Karl aus. Jetzt geht es ihm nicht mehr darum, am Wochenende in eine Gegenwelt aus Felsen, Licht und Sternen einzutauchen, er hat beschlossen, ein „guter Bergsteiger“ zu werden und geht auf „Die Jagd“ nach berühmten Routen und Wänden. „Die 400 Meter senkrechte Wand, wie der Tofanapfeiler, die 750 Meter der Lalidererverschneidung oder die 1000 Meter der Courtes-Nordwand und wie sie alle heißen. Die Wände, die man alle gemacht haben musste, um als ein guter Bergsteiger zu gelten. Niemanden interessierte es, nicht mal richtig mich selbst. Ich war fremdbestimmt. Ähnlich wie ich früher Autos reparieren musste, so musste ich jetzt die Bergtour X, Y oder Z machen.“
Naturerlebnis, Individualismus und Selbstbestimmung sind nun zugunsten des sportlichen Leistungsprinzips in den Hintergrund gerückt, der Bergraum wird zum Spiegelbild der Autowerkstatt. Damit einher geht eine enorme Beschleunigung des Tempos, sowohl während der einzelnen Tour als auch zwischen den Touren, die Reinhard keine „Zeit zum Atmen“ mehr lässt.
„Auf dem Gipfel schaute ich zuerst auf die Uhr, um festzustellen wie lange wir für die Tour gebraucht hatten. Dann rasten wir wieder hinunter. Eigentlich war es verwunderlich, warum wir uns überhaupt da rauf verlaufen hatten. (…)
Zum Nachdenken finde ich keine Zeit, nicht mal auf dem Gipfel, nicht mal nach Feierabend; dazu bin ich zu müde.“

Der atemraubenden Begeisterung der Anfangszeit folgt eine Atemlosigkeit anderer Art: Seine Fokussierung auf das Leistungsprinzip bewirkt, dass Reinhard immer mehr unter das Diktat der Beschleunigung gerät: Ein Gipfel folgt auf den nächsten, eine Tour nach der anderen wird „abgehakt“. Die Beschleunigung verhindert jede Auseinandersetzung mit dem Erlebten, Reinhard verliert so seinen Raum zum Erleben.
Was Reinhard Karl passierte, lässt ich heute vielfach beobachten: Beschleunigung und Fokussierung auf das Leistungsprinzip sind prägende Tendenzen sowohl im Bergsport als auch auf der gesellschaftlichen Ebene.

Dynamiken auf der Metaebene
Für die spätmoderne Gesellschaft sind aus soziologischer Sicht folgende Entwicklungen charakteristisch: 1) Multioptionalität und Temposteigerung,
2) Wettbewerbs- und Leistungsorientierung.

  1. Unsere Gesellschaft bietet einer großen Zahl von Menschen eine Fülle an Erlebnismöglichkeiten. Dies verführt einerseits dazu, die einzelnen Aktivitäten zu beschleunigen, anderseits deren Zahl und Häufigkeit zu steigern. Man will immer mehr erleben, dazu muss die Zeit immer enger getaktet werden, was zu einem regelrechten „Freizeitstress“ führt und außerdem den Nachgeschmack hinterlässt, trotz aller Eile schöne Erlebnisse verpasst zu haben. Zusätzlich angeheizt wird die Temposteigerung durch technische Beschleuniger wie dem Flugzeug, welches eine breite Mobilität und die schnelle Erreichbarkeit ferner Destinationen in kurzen Zeiteinheiten ermöglicht.
  2. Das Wettbewerbsprinzip und der engstens damit verbundene Leistungsgedanke – x ist schneller, y ist besser -, das in seiner reinsten Form im klassischen Wettkampfsport verwirklicht ist, beginnt nach und nach alle Sphären des Lebens zu durchdringen. Konkurrenz wird in immer stärkerem Maße zum dominanten Interaktionsmodus in der gegenwärtigen Gesellschaft, selbst Bereiche wie Wissenschaft, Kunst, Bildung und Gesundheit werden wettbewerbsförmig organisiert, Leistungs- und Effizienzzwänge verselbständigen sich dadurch.

Multioptionalität und Beschleunigung, oder: Die Qual der Wahl
Über das verlängerte Wochenende auf den Mont Blanc – man verbraucht nur einen Urlaubstag, die Kinder sind leicht unterzubringen; im Frühjahr mit Freunden ins Tessin zum Bouldern; im Herbst nach Nepal zum Trekking, oder sollte man diesmal Patagonien ins Auge fassen? – die Schitouren in Norwegen werden sich erst nächstes Jahr ausgehen; dazwischen noch eine Woche Klettern in Sizilien, mit einem Flug um Euro 99.- In den zwei Wochen Sommerurlaub im vollbepackten Van ab nach Südfrankreich, Klettersachen, Mountain Bikes, Kajakausrüstung und Laufschuhe sind mit dabei.

Ein „Kult der Aktivität“ (Kocyba) hat auch die fernsten Bergräume erfasst. Statt sich auf eine Sportart zu konzentrieren, werden viele verschiedene Sportarten und Bewegungsformen parallel zueinander- oder hintereinander ausgeübt. Werte wie Spaß, Freude, Individualität und Selbstbestimmtheit stehen dabei im Vordergrund. Darin zeigt sich eine kulturelle Maxime unserer „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze), deren Motto lautet: Erlebe Dein Leben! Nutze es, um Dir möglichst viele „schöne“, das heißt aufregende,
spannende, interessante Erlebnisse zu verschaffen! Eine Vielfalt an Möglichkeiten und Optionen lockt, allein die Zahl der Outdoor-Sportarten ist in den letzten Jahrzehnten extrem angestiegen: Man kann wählen zwischen Canyoning, Paragliding, River Rafting, Telemarken, Hochseilgärten, Kite-Surfen, Freeriden und vielem mehr. Auch innerhalb der einzelnen Sportarten gibt es immer größer werdende Auswahlmöglichkeiten. Man geht nicht einfach Klettern, sondern muss sich entscheiden zwischen alpinem Felsklettern, Sportklettern, Wettkampfklettern, Bouldern – in der Halle oder am Fels -, Dry-Tooling, Deep-Water-Soloing oder Speed-Klettern, um nur einige Varianten aufzuzählen.

Doch wer die Wahl hat, hat die Qual. Die ausufernden Wahlmöglichkeiten wirken wie ein Zwang. Denn gleichzeitig mit ihnen kommt die Angst etwas zu verpassen auf, was dazu führt, dass das Tempo der Handlungen erhöht wird: Man verkürzt den einzelnen Urlaub, um mehrere pro Jahr realisieren zu können, und/oder man verdichtet die Aktivitäten innerhalb des Urlaubs, um möglichst viele davon unterzubringen zu können. Gleichzeitig werden Pausen und Phasen des Nichts-Tuns systematisch eliminiert. Zusätzlich exponentiell vervielfältigt wurden die Möglichkeiten des Einzelnen durch die Verbilligung des Fliegens: Flogen 1971 flogen nur 2 Millionen Passagiere pro Jahr
weltweit, so waren es 1981 bereits 44 Millionen, heute sind 500.000 Menschen gleichzeitig im Flugzeug unterwegs. Wir können in kürzester Zeit weit entfernte Orte erreichen, die Welt ist „klein“ geworden, der Raum quasi geschrumpft. Auch dies trägt zur Verknappung der Zeitressourcen bei und zum weitverbreiteten Gefühl der Zeitnot: Als Konsequenz daraus verdrängt Convenience Food aufwändiges Kochen, ersetzen schnelle Kurzurlaube langsamere Reiseformen, und werden Pauschal-Urlaube gebucht statt fremde Landschaften und Gegenden erkundet.

Zeitstrukturen, so der Soziologe Rosa, seien abhängig von der jeweiligen Kultur und daher immer kollektiver Natur. Der einzelne könne über die Qualität, das Tempo und den Rhythmus der eigenen Zeit keineswegs so frei entscheiden, wie dies Zeitplanungssysteme suggerieren würden. Der allgemeinen Steigerung des Lebenstempos, wie sie für unsere spätmoderne Gesellschaft charakteristisch sei, unterliege man daher fast schon notgedrungen.

Leistungs- und Wettbewerbsdenken, oder: Schneller – höher – weiter
Auf der einen Seite gibt es, wie bereits aufgezeigt, eine Zunahme an Outdoor-Sportaten, bei denen Spaß und Freude an der Bewegung im Zentrum stehen, auf der anderen Seite steigt auch im Bergsportbereich die Bedeutung von Leistung und Effizienz, was sich sowohl in sportlichen Wettkämpfen und Wettkampf-Events, wie Bergläufen, Schitouren-Rennen und Multi-Disziplinen-Wettkämpfen wie den Dolomiten Mann als auch jenseits davon zeigt. So nahmen 2012 rund 800 Teilnehmer beim Berglauf auf den Großglockner teil, dies korrespondiert mit dem Boom an Groß-Events im Breitensport, wie Städtemarathons, Radrennen oder Triathlons.

Als logische Konsequenz dieses allgemeinen Trends zur „Versportlichung“ lässt sich auch jenseits von offiziellen Wettkämpfen beobachten, dass die Bergräume zunehmend zu Trainingsorten und Schi- oder Bergtouren zu Konkurrenzveranstaltungen werden: Auf den 1.200 Höhenmetern soll die persönliche Bestmarke herabgesetzt werden, gleichzeitig wird der persönliche Rekord zur Benchmark für die langsamer Nachschnaufenden. Das Regelwerk des traditionellen Wettkampfsports setzt sich in der breiten Masse der Berg-Sporttreibenden weitgehend unhinterfragt durch: Zeiten werden verglichen, Höhenmeter gemessen; überlaufene, aber prestigeträchtige Gipfel müssen dieser Logik zufolge „gemacht“ werden, weil es sich dabei um „herzeigbare“ Leistungen handelt. Sie erinnern sich an Reinhard Karl, den Ausnahmebergsteiger? So mancher Bergsportler erliegt heute den gleichen Zeit- und Leistungszwängen wie dieser, was verwunderlich erscheint, da meistens OHNE Aussicht auf objektive Höchstleistungen.

Die Versportlichung von Aktivitäten, und der damit verbundene Leistungs- und Bewährungszwang, löst wiederum – wie die Multioptionalität – die bekannten Phänomene des Freizeitstresses aus. Denn man „besitzt“ die mit der sportlichen Leistung verbundene Anerkennung niemals, sondern es besteht die Gefahr, diese auch wieder zu verlieren. Die Bewährung durch Leistung wird so zu einer Daueraufgabe. Der Bergsport spiegelt hier nur allgemeine Vergesellschaftungsmuster: Die Gewinner im gesellschaftlichen Wettbewerbszirkel sind gezwungen so zu handeln, dass dies ihrer Konkurrenzfähigkeit zuträglich ist, und können niemals damit aufhören, ohne gleichzeitig etwas zu verlieren oder aufzugeben. Wie sehr das Leistungs- und Wettbewerbsprinzip, sobald es dominant wird, alternative Modi von Weltbeziehungen verdrängt, wird durch das folgende Beispiel illustriert:

Vom Lebensstil zum Wettkampfsport
„Man geht nicht NACH dem Klettern einen Kaffee trinken, sondern Kaffeetrinken IST Teil des Kletterns“, meinte Wolfgang Güllich, einer der führenden Sportkletterer seiner Zeit. In einem Artikel für das DA UnknownV-Jahrbuch beschrieb er 1989 den Lebensstil des Sportkletterers folgendermaßen. Klettern, so Güllich, biete „die großartige Chance jenseits der körperlichen Leistung eine phantastische Natur zu erleben, in interessante Länder zu reisen, mit Freunden im Cafe herumzuhängen und sich nicht von Trainern und Offiziellen sagen zu lassen, was man zu tun hat. Insofern wird der Sport auch zum Lebensstil (…) Es gilt also die nichtentfremdete Leistung als wesentliches Prinzip: über das Wie, Wann und Wo einer Aktivität entscheidet der Kletterer selbst.“

Den ersten Sportkletterwettkämpfen, die noch an Naturfelsen ausgetragen wurden, begegnete er mit einer gehörigen Portion Skepsis, in welcher sich auch weitgehend das Unbehagen einer ganzen Generation von Kletterern und Kletterinnen daran ausdrückte. Folgende kritische Fragen stellte der Ausnahmekletterer Güllich in bezug auf die Durchführung von Wettkämpfen in den Raum: Erhalte durch die Konkurrenz und den direkten Vergleich nicht der Leistungsgedanke eine zu starke Akzentuierung? Schiebe er sich nicht in den Vordergrund, um zum Maß aller Dinge zu werden? Würden dadurch nicht Ideale wie Selbstverwirklichung, Kreativität, Selbstbestimmung, die den Lebensstil des Sportkletterns ausmachten, zweitrangig? Werde die subkulturelle Sportkletterbewegung durch das Austragen von Wettkämpfen nicht immer mehr zum Spiegelbild der Gesellschaft? Und last but not least: Bedeute die sich anbahnende Entwicklung zum Wettkampfsport– nicht mehr selbst über das Wann, Wo und Wie der Aktivität bestimmen zu können – nicht einen gravierenden Verlust an Individualität für jeden Kletterer?

Vor rund fünfundzwanzig Jahren nahm Wolfgang Güllich bereits weitsichtig eine Entwicklung im Klettersport vorweg, die mittlerweile unhinterfragt Realität wurde: Kletterwettkämpfe sind alltäglich geworden und mit ihnen hat sich der Leistungsgedanke in den Vordergrund gedrängt; Selbstverwirklichung und Kreativität sind nachrangig geworden, schon die Allerkleinsten werden in Kindercups auf die spätere Wettkampftauglichkeit hintrainiert; der Verlust an Individualität wird nicht mehr reflektiert, die Berichterstattung ist dominiert durch Platzierungen und Ranglisten. Im Klettern hat sich das Wettkampfmodell durchgesetzt und den subkulturellen Lebensstil in kleine Biotope verwiesen; Sportklettern wurde dadurch mehr und mehr zu einem Spiegelbild der Gesellschaft.

Handke

Peter Handke

Resonanzsphären, oder: „Ich bin kein Aktivwanderer“
Während Beschleunigung und Wettbewerbsdenken die Möglichkeit, sich Weltausschnitte in Erfahrungen anzueignen verringern, bewirken „schöne“ Naturerlebnisse das Gegenteil. Es sei die existentielle Empfindung des Getragen- und Gehaltenseins in einer warmen und antwortenden Natur, welche eine Resonanzerfahrung ausmache, so der Soziologe Rosa: Wenn man beispielsweise bei Sonnenaufgang auf einem Berggipfel ergriffen ist und die Welt „atmen“ hört, oder wenn man auf einer Schitour spürt, wie sie der „Seele“ gut tut, oder beim Klettern eine „innige Verbindung“ zu einer besonderen Route aufbaut und im Einklang mit dem Außen ist. Einer der auf die „Erschütterung durch Schönheit“ aus ist, die erst in der „steten Natur-Betrachtung und Versenkung Form gewinnt“, ist der Schriftsteller Peter Handke. Er ist ein leidenschaftlichen Geher. Für ihn ist „Gehen essentiell. Bergaufgehen vor allem. Ich gehe immer. Zuletzt im Friaul. Ich gehe. Das Wort „wandern“ mag ich ja nicht. Aber gehen. Weit gehen. Weit muss es sein. Ohne das aber in Zahlen messen zu wollen. Weil das Leben kann man nie in Zahlen erzählen.“

Füße

Archiv: W.Krainz

Wird der moderne Sport gekennzeichnet durch die exakte Vermessung von Raum und Zeit, wie sie sich in Stunden-, Kilometer- und Höhenangaben zeigt, so verachtet Handke diesen „Terror der Abstraktion“(Assheuer), der alles kalkuliert und berechnet. Ihm liegt es fern, Modeberge oder berühmte Gipfel zu besteigen, die Wahl des Reiseziels hängt für ihn nicht „vom Prestige ab, das ihm anhaftet“. Der Schriftsteller begeht „natürliche, alte Wege“ in Spanien oder Südfrankreich, im Kosovo und in Serbien. Er erkundet Landschaften und Gegenden wie die Pyrenäen, „da kenne ich inzwischen fast alle Pässe und alle Täler“, so Handke. Beim gehenden Unterwegs-Sein und bei den Reisen zu Fuß wird der im Alltag als geschrumpft erfahrene Raum in der persönlichen Wahrnehmung „gedehnt“ und der ansonsten fast schon verkümmerte „anthropologische Raumsinn“ (Kaschuba) wieder aufgewertet: „Bergaufgehen ist sehr wichtig, Bergaufgehen ist gut für die Seele. Aber nicht unbedingt Klettern. Ich mag Landschaften, wo es bergauf und bergab geht. (…) Und ab und zu wirklich steil und dann wieder plateauhaft. (…) Es muss ein guter Rhythmus sein zwischen Besiedelung und Menschenleere.“

Entfernungen würden durch das langsame Gehen wieder real werden, meint auch die italienische Höhenbergsteigerin Nives Meroi. Das Gute an den Reisen im Himalaya sei, dass man sie „noch zu Fuß machen muss. (…) Die Langsamkeit erlaubt es dir, in die Landschaft einzutreten, deine Sinne in ihr zu spüren.“ Die Sinne vollkommen zu öffnen, um zu schauen, Eindrücke zu sammeln und auch das Unscheinbare hingebungsvoll wahrzunehmen – dies ist nur möglich in relativer Einsamkeit. Deshalb ist Handkes Zugang ein radikal individualisierter, er geht „immer allein. Das ist entschieden. Ich sehe einfach nichts, wenn ich mit anderen gehe. Schauen ist eine Gnade. Ich bin kein Aktivwanderer.“

Die Lieblingsgegend seiner „jungen Jahre“ ist der Karst, die Hochfläche über dem Golf von Triest. Im Roman „Die Wiederholung“ beschreibt der Ich-Erzähler den Karst als seine persönliche Resonanzsphäre: „Das Hochgefühl der Freiheit bei jeder neuen Ankunft kam von keiner Entrückung. Nicht losgelöst wusste ich mich, vielmehr verbunden, endlich.“

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Der Karst, Foto: W.Krainz

Es ist die Art der Raum-, Zeit- und Selbstwahrnehmung, die darüber entscheidet, ob eine Naturerfahrung zum Gefühl des Getragen-Seins und der Freiheit oder der Entfremdung und der Unfreiheit führt – dies wurde von Reinhard Karl prägnant beschrieben. Und dessen ist sich auch Peter Handke bewusst, der immer wieder im Karst Gehende, der sich vom warmen Wind dort gleichsam befreien lässt: „Woher kam, schon mit dem ersten Sich-Umblicken damals, diese Freiheit? Wie kann eine Landschaft überhaupt etwas wie „Freiheit“ bedeuten? (…) Als Antwort fällt mir dazu nur der Karstwind ein (und vielleicht dazu noch die Sonne). (…) Der Karst-Wind ist nicht bloß, weil er unten vom Meer kommt, ein Aufwind: Er greift einem, ungeheuer sanft, unter die Achseln, so dass der Gehende, auch wenn er sich ihm entgegenbewegt, sich von ihm transportiert fühlt. (…) und mit ihm verflüchtigten sich die Grübeleien, und es kehrte sich wieder jener große Gedanke, befreiend wie nichts sonst, nach außen: Freund, du hast Zeit.“

 Erschienen in: Alpenvereinsjahrbuch BERG 2014. Hg DAV (München), ÖAV (Innsbruck), Alpenverein Südtirol (Bozen).

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