Leben Macht Schreiben. Gesundheit als (Schrift-) Effekt der Biopolitik.
In: Vom Krankmelden und Gesundschreiben.
Literatur und/als Psycho-Soma-Poetologie?
Hrsg. von Artur R. Boelderl. Innsbruck: Studienverlag 2018.
Leben Macht Schreiben (Download PDF).
Wir leben in einem Zeitalter der Gesundheit, zumindest der allseits erstrebten Gesundheit. Ein unüberschaubares Konglomerat von Diskursen, Praktiken und Wissensformen ist rund um das Thema angesiedelt, es reicht von der Ursachenforschung über Resilienz bis zur Burn-Out-Behandlung, von Gymnastikkursen in Fitnessstudios und veganem Essen bis hin zu staatlichen Präventivmaßnahmen gegen Krebserkrankungen, von politischen Kampagnen wie dem Anti-Raucher-Volksbegehren bis zu neoliberalen Methoden der Selbstoptimierung: En Vogue in der amerikanischen Ratgeberliteratur ist momentan das healing (Han 2014, 29), mittels dessen jede funktionelle Schwäche und jede mentale Blockade im Namen von Effizienz und Leistung weg therapiertwerden soll.
In diesem Gesundheitsdispositiv vermischen sich öffentliche Anreizsysteme und normative Verhaltensimperative, selbsttechnologische Gesundheitspraktiken und Gesetzgebung, politische Interessen und medizinisches Fachwissen. Die internen Regularitäten und Machtbeziehungen darin erschließen sich nicht auf den ersten Blick, da Gesundheit als gesellschaftlicher Wert neutral und medizinisches Wissen als jenseits von Machttechniken angesiedelt erscheint. Doch der Durchsetzungserfolg der Macht entspreche gerade ihrem Vermögen, ihre Mechanismen zu verbergen, so der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984). Die Macht wirkt am besten im Verborgenen, nur „unter der Bedingung, dass sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschleiert, ist die Macht erträglich“ (Foucault 1983, 107).
Diese im Verborgenen wirkenden Mechanismen, welche die Macht mit dem Leben verbinden und Gesundheit zum Effekt der Biopolitik werden lassen, sollen im Folgenden aufgezeigt werden. Dabei wird an Foucaults historisch lokalisierte Machtkritik angeknüpft, im Wesentlichen an seine Analyse der Disziplinargesellschaft in Überwachen und Strafenaus dem Jahr 1975 (zit. Foucault 1977), an sein Konzept der Biopolitik in Der Wille zum Wissen(zit. Foucault 1983), seine Überlegungen zur Gouvernementalität (zit. Foucault 1978) sowie an die Vorlesungen Die Macht der Psychiatrieaus den Jahren 1973-1974 (zit. Foucault 2015). In seinen genealogischen Arbeiten zeigt Foucault auf, dass die Geschichte der modernen Gesundheitspolitik verbunden ist mit der Etablierung einer Normierungsgesellschaft und mit dem Aufkommen eines medizinischen, psychiatrischen und statistischen Wissens, welches sich im Zeitraum zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert herausbildet. Ergänzt werden Foucaults Analysen durch die Ausführungen des italienischen Philosophen Agamben zur Thanatopolitik des nationalsozialistischen Regimes.
- Die Disziplin
Man schrieb den 28. März 1757 als Robert Francois Damiens in einem Stützkarren auf dem weitläufigen Greve-Platz in Paris vorgefahren wurde. Eine große Masse an Zuschauern harrte bereits aus, Damien wurde sogleich auf das eigens aufgebaute Gerüst gebunden, er war nackt bis auf ein Hemd. Der Scharfrichter kam und bohrte glühende Zangen in das Fleisch Damiens, riss Stücke aus Brust, Armen und Beinen und goss siedendes Blei in die Wunden. Nach dieser Tortur wurde der Verurteilte auf einem Andreaskreuz festgezurrt und Arme und Beine mit je einem Pferd verbunden, welche in unterschiedliche Richtungen ziehen und den Körper Damiens so zerreißen sollten. Trotz mehrmaliger Versuche gelang dies nicht, sodass der Scharfrichter sich schließlich dazu entschloss, die Extremitäten mit einem Messer vom Körper abzutrennen. Es ist nicht überliefert, bei welchem Teil der Marter Damien das Bewusstsein verlor. (Foucault 1977, 9ff)
Die Souveränitätsmacht ist die Macht des Schwertes und des Todes, sie hat das Vorrecht sich des Lebens zu bemächtigen, um es auszulöschen. Diese traditionelle Machtform wirkt primär repressiv und negativ, durch Todesdrohung und durch Ausbeutung; dem Souverän ist die Sorge um seine Untertanen fremd, sie sind lediglich Teil des Territoriums, das es zu sichern gilt und dessen Feinde abgewehrt werden müssen. Die souveräne Macht hat das Zugriffsrecht auf das Leben, aber außer als abzuschöpfende Ressource hat das Leben der Untertanen keinerlei Bedeutung für sie. (Foucault 1983, 162ff)
Foucault zufolge manifestiert sich die Macht seit der Aufklärung nicht mehr als Todesmacht, sondern als Lebensmacht. Statt den Körper zu martern und zu verstümmeln, wird er fein abgestimmten Disziplinierungsverfahren unterworfen: Junge Gefangene müssen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts einem genauen Reglement unterwerfen, welches Folgendes vorschreibt: um 6.00 Aufstehen und Morgengebet, um 6.45 Waschen im Hof und Brotzuteilung, danach Arbeit in der Werkstatt, um 10.00 Hände waschen und Mahlzeit, um 10.40 Unterricht, um 12.40 Erholung im Hof, um 13.00 Arbeit in der Werkstatt, um 16.00 Hände waschen und Essen im Saal, um 19.00 Brotzuteilung und Lesung (Foucault 1977, 12f).
Der Zeitplan hat nichts mehr gemein mit der spektakulären Inszenierung der Marter. Die Disziplin strukturiert die Zeit durch genaue Planung, sie parzelliert den Raum und platziert die Individuen, sie unterwirft die Subjekte einer allumfassenden Sichtbarkeit, sie sanktioniert kleinste Fehler und Normabweichungen, sie wirkt durch permanente Überwachung und Bestrafung. Wie die Marter setzt die Disziplin am Körper an, doch im Gegensatz zu ersterer geht es ihr um „seine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeit, die Ausnutzung seiner Kräfte, das Anwachsen seiner Nützlichkeit“ (Foucault 1983, 166), die Disziplin bringt Kräfte hervor, anstatt sie zu vernichten, sie ist eine „Macht, die das Leben verwaltet und bewirtschaftet“ (Ebd. 163).
Die Disziplinarmacht beschränkt sich nicht auf das Gefängnis, ihre Räume sind die Schule, die Kaserne, das Spital und die Fabrik. In den Gefängnissen sollen aus Verbrechern resozialisierte Arbeiter geformt werden, in den Schulen gelehrige Schüler und in den Kasernen aus Bauern stramme Soldaten. Der Soldat ist die Idealfigur der Disziplinarmacht, durch ständigen Drill wird er daran gewöhnt
„den Kopf gerade und hoch zu halten; sich aufrecht zu halten, ohne den Rücken zu krümmen, den Bauch und die Brust vorspringen zu lassen und den Rücken einzuziehen […]und schließlich mit festem Schritt zu marschieren, das Knie und die Kniekehle gestrafft, die Fußspitze gesenkt und nach außen gekehrt.“ (Foucault 1977, 174)
In den Kasernen und Militärschulen werden mit der Dressur des Körpers zugleich der Gesundheitsimperativ, welcher vorschreibt „kräftige Körper heranzuzüchten“ (Ebd. 223) als auch ein moralischer Imperativ, welcher Ausschweifung und Homosexualität verhindern soll, etabliert.
Die Disziplin ist eine „Mikrophysik der Macht“, ein Netz von Machtpraktiken, welche alle gesellschaftlichen Institutionen durchzieht. Sie reglementiert, stellt Standards und Normen auf und richtet die Individuen daran aus: „zusammen mit der Überwachung wird die Normalisierung zu einem der großen Machtinstrumente“ (Ebd. 237).
1.1. Das Spital
Aus der Gemeinschaft ausgeschlossen mussten die Leprakranken im Mittelalter außerhalb der Stadt ihr Leben fristen. Um die Verbreitung der Krankheit zu verhindern, wurden sie in Leprakolonien isoliert und bildeten eine große und diffuse Masse, die nicht wert war, näher bezeichnet zu werden. Gegensätzlich gestaltete sich der Umgang mit der Pest in der frühen Neuzeit: Die Stadt wurde hermetisch abgeschlossen, niemand durfte hinaus oder herein, im Inneren wurde der Raum parzelliert und in unterschiedliche Viertel aufgeteilt, welchen eigene Kontrolleure zugewiesen wurden. Diese gingen täglich von Haus zu Haus und registrierten jeden Krankheitsausbruch, jedes Krankheitsstadium und jeden Todesfall. Jeder Kontrolleur musste einem ranghöheren über die Vorgänge Bericht erstatten, eine strenge Hierarchie wurde etabliert. Ziel der Maßnahmen war es, den Stadtraum lückenlos zu überwachen. (Foucault 1977, 251ff)
Statt des stigmatisierenden Ausschlusses erfolgt hier eine klassifizierende und individualisierende Kontrolle. Die verpestete Stadt wird damit zum Modell der Disziplinierungsanlage schlechthin und zum Vorbild für das moderne Spital (Ebd. 255f). Auch im „wohldisziplinierten“ Spital des 18. Jahrhunderts ging es vorerst darum, der „beweglichen und wimmelnden Masse“ Herr zu werden: Die Zahl der Kranken und ihre Identität musste festgestellt werden, ihr Kommen und Gehen überwacht. Jeder Kranke wurde in ein Register eingetragen, welches der Arzt konsultieren musste. Alle Vorgänge wurden genauestens beobachtet und beschrieben, es wurden Kategorien gebildet, Durchschnitte ermittelt und Abweichungen davon registriert. (Ebd. 240f)
Durch diese detaillierte Klassifizierung und Beschreibung der Kranken wurden die Spitäler zu „Laboratorien für Aufzeichnungsmethoden“ (Ebd. 247). Es entstand ein therapeutischer Raum, in welchem „die Körper, die Krankheiten, die Symptome“ (Ebd.185) zugleich individualisiert und in eine systematische Ordnung gebracht wurden. Daraus resultierte eine neue Beschreibbarkeit der Krankheiten, welche von der allgemeinen Kategorisierung über das konkrete Fallbeispiel bis hin zum biografischen Bericht reichte. Die medizinischen Beschreibungen wurden umso detaillierter je größer die Abweichungen von der (Gesundheits-)Norm waren. Die Trennung des Normalen vom Pathologischen und des Gesunden vom Kranken mit der gleichzeitigen Stigmatisierung des Letzteren begründe, so Foucault, in einer Normierungsgesellschaft den Status der Medizin als „Königin der Wissenschaften“ (Foucault 1976, 84).
Ursprünglich eine Stätte der Fürsorge, begann das Spital ab dem 18. Jahrhundert zu einem Ort systematischer Wissensherstellung zu werden. Der Arzt verdrängte das Ordenspersonal, tägliche Prüfungsrituale, wie die Visite, wurden etabliert und der Kranke fortan einer „fast ununterbrochenen Überprüfungssituation“ (Foucault 1977, 239) ausgesetzt. Unter dem ärztlichen Blick wurde der Kranke zum Objekt und Gegenstand der Wissenschaft, die penible Dokumentation und die Anhäufung von Daten dienten dazu, das „Individuum als Effekt und Objekt von Macht, als Effekt und Objekt von Wissen (zu) konstituieren“ (Ebd. 247). Im Spital verschränken sich die Macht der objektivierenden Wissenschaft mit der Macht der disziplinierenden Körperkontrolle.
Die räumliche Struktur des Spitals stellte eine architektonische Modifikation des berühmten Benthamschen Panopticons dar, in welchem Foucault das paradigmatische Beispiel des Disziplinarapparates sieht: Das Panopticon besteht aus einem Turm in der Mitte und einem ringförmigen Gebäude am Rand. Das Ringgebäude ist in Zellen mit Fenstern nach innen und außen unterteilt, sodass die Insassen jederzeit vom Turm aus sichtbar sind, es für die Insassen jedoch nicht erkennbar ist, ob im Turm ein Wächter anwesend ist. Die Macht überblickt und kontrolliert alles, während sie selbst nicht sichtbar ist und anonym bleibt. (Ebd. 256 ff) Durch das panoptische Prinzip wird es möglich, mit „immer weniger Personen, Macht über immer mehr“ (Ebd. 265) auszuüben und einer Vielfalt von Individuen ein bestimmtes Verhalten aufzuzwingen; das Panopticon wird so zum Verstärker für jeden beliebigen Machtapparat.
Die panoptische Struktur findet sich modifiziert in allen Disziplinarinstitutionen – der Schule, der Kaserne, der Fabrik – wieder, in besonderer Klarheit zeigt sie sich im Gefängnis und in der psychiatrischen Anstalt des 19. Jahrhundert. In dieser wurde der Patient nicht nur zum Zwecke der Kontrolle einer permanenten Sichtbarkeit unterworfen, der Isolierung und Überwachung der Kranken wurde darüber hinaus auch ein therapeutischer Wert zugeschrieben. Die „Heilungsmaschine“ (Foucault 2015, 153) der Anstalt sollte als panoptischer Apparat heilen: Aus therapeutischen Gründen musste der Geisteskranke, so die Meinung der Psychiater, von seinem familiären Umfeld abgesondert und gegebenenfalls auch in Einzelzellen isoliert werden, zumindest musste er in der Anstalt permanent überwacht werden, und es musste ihm gleichzeitig auch bewusst sein, dass er überwacht wird. Statt eines ringförmigen Gebäudes wurden im Kreis angeordnete Pavillons gebaut, denn der Arzt sollte „auf leisen Sohlen kommen können, ohne von irgendjemandem gehört zu werden“ (Ebd. 154). Ein Direktionsgebäude, welches im Zentrum der Pavillons liegt, ersetzt in dieser räumlichen Anlage den zentralen Überwachungsturm des Panopticons.
Der unterworfene Körper des Irren steht innerhalb der panoptischen Architektur dem auf die ganze Institution der Psychiatrie ausgedehnten Körper des Arztes gegenüber (Ebd. 271):
„Der Körper des Psychiaters muss überall präsent sein. […]Er muss mit einem einzigen Blick alles sehen, mit einem einzigen Rundgang die Situation eines jeden seiner Patienten überwachen können; […]er muss alles sehen und ihm muss alles berichtet werden. Was er selbst nicht sieht, müssen ihm die Aufseher sagen, […]so dass er in der Anstalt in jedem Augenblick und fortwährend omnipräsent ist. Er überzieht mit seinem Blick, mit seinem Ohr, mit seinen Gesten den gesamten Anstaltsraum.“ (Ebd. 262).
- Die Biomacht
Der eine Pol der modernen Lebensmacht ist die auf den Körper als zu manipulierendes Objekt ausgerichtete Disziplinarmacht, ihr zweiter Pol ist die Biomacht. Die produktive Macht der Neuzeit entdeckt, dass sie es nicht nur mit Untertanen, sondern mit einem „Volk“ und einer „Bevölkerung“ (herv. im Original, Foucault 1983, 37) zu tun hat, mit einer Produktions- und Reproduktionsmasse, die es sorgfältig zu verwalten gilt. Geburtenraten, Sterblichkeit, Lebensdauer und Fruchtbarkeit werden ab dem 18. Jahrhundert zum Gegenstand von Regulierung und Regierung, die Biopolitik zur Regierungstechnik der Disziplinargesellschaft. Erst in der Neuzeit lernt der abendländische Mensch, so Foucault, „einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit“ (Ebd. 170). Im Zentrum der Biomacht stehen einerseits die (bürgerliche) Familie und deren Sexualität und andererseits die Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen.
2.1. Das Bürgertum
Im Gegensatz zur sogenannten Repressionshypothese, welche eine zunehmende Unterdrückung der Sexualität ab dem 17. Jahrhundert konstatiert, geht Foucault davon aus, dass die modernen Humanwissenschaften -die Medizin, die Psychiatrie, die Pädagogik und in weiterer Folge auch die Psychologie und die Psychoanalyse -gerade das Gegenteil davon bewirkten: Nämlich eine „diskursive Explosion“ (Foucault 1983, 27) rund um das Thema Fortpflanzung (Sex) und Sexualität, „die im Wirkungsbereich der Macht selbst stattfindet: institutioneller Anreiz, über den Sex zu sprechen, und zwar immer mehr darüber zu sprechen; […]ihn zum Sprechen zu bringen in ausführlichen Erörterungen und endlosen Detailanhäufungen“ (Ebd. 28). Die Wahrheit über den Sex muss als Geständnis abgelegt werden, nicht mehr in der alten Form der christlichen Buße, sondern dem Arzt, dem Psychiater, dem Pädagogen und im Falle der „Perversionen“ auch der Justiz gegenüber. Foucault meint, die Macht fordere auf, ununterbrochen über den Sex zu sprechen, anstatt ihn zu unterdrücken (Ebd. 128).
Während Sexualität eine individuelle Sache ist, welche die geheimen Phantasien und Exzesse betrifft, ist der Sex eine Familienangelegenheit: Eines der wichtigsten Anliegen des aufstrebenden Bürgertums war es, das „blaue Blut des Adels in einen kräftigen Organismus und eine gesunde Sexualität“ zu verwandeln (Ebd. 151). Den Allianzheiraten des Adels setzte das Bürgertum die Gesundheit des Körpers entgegen, dem Stammbaum die Sorge um die Nachkommenschaft. Am eigenen Körper – und an dem seiner gesunden Nachfahren – belegte der Bürger seine Moral, seine Leistungsfähigkeit und seine Tüchtigkeit, mit dem Körper grenzte er sich von dem als blass, überfeinert und schwächlich geltenden Körper des Adeligen ab. Dem Bürgertum ging es dabei um eine „unbeschränkte Ausweitung der Kraft, Stärke, Gesundheit, des Lebens“ (Ebd. 150), denn die Herrschaft des Bürgertums war auch eine physische Angelegenheit.
Für gesunde Nachkommen zu sorgen, wurde damit zur moralischen Aufgabe des bürgerlichen Ehepaares: „die progressive Paralyse des Großvaters, die Nervenschwäche der Mutter, die Schwindsucht des Schwesterchens, die hysterischen und liebestollen Tanten, die Vettern mit dem schlechtem Lebenswandel“ (Ebd. 150) waren sowohl Themen bürgerlicher Heiratspolitik als auch der Wissenschaft, welche sich im 19. Jahrhundert von einer Medizin des Körpers zu einer Medizin des Sexes wandelte. Vier Figuren wurden zu bevorzugten Gegenständen der neuen Sexualwissenschaft und regten im Besonderen die Produktion von Diskursen an: „die hysterische Frau, das masturbierende Kind, das familienplanende Paar und der perverse Erwachsene“ (Ebd. 127) Aus diesen Figuren entwickelten sich Mischfiguren wie die nervöse Frau und die frigide Gattin, der impotente, sadistische oder perverse Gatte, die hysterische Tochter und der junge Homosexuelle. (Ebd. 133)
Die hysterische Frau: Auf die Hysterie als speziell weiblicher Krankheit wird im Folgenden noch eingegangen, die Figur der nervösen oder hysterischen Frau bildete jedoch das Negativbild zur Figur der „Mutter“ (herv. im Original, ebd. 126), durch welche der weibliche Körper mit dem Gesellschaftskörper verknüpft wurde.
Das masturbierende Kind: Diese Figur führte zu einer Pädagogisierung des kindlichen Sexes und zu einem Feldzug gegen die Onanie -mit ausgeklügelter Überwachung, dem Herstellen von Schuldgefühlen, der Forderung nach unablässiger Wachsamkeit, architektonischen Umbauen. (Dreyfus/Rabinow 1994, 203).
Das familienplanende Paar: Dem bürgerlichen Paar wurde die Verantwortung für die Gesundheit der herrschenden Klasse übertragen, es wurde daher zur bevorzugten Zielscheibe einer Moral und Medizin des Sexes: Es galt den Körper vor schädlichen Einflüssen schützen, die durch sorglose Sexualität herbeigeführt werden konnten. Sexuelle Unachtsamkeiten des Paares als auch Krankheiten der Vorfahren, so hieß es, könnten zur Zeugung Erbkranker oder Perverser führen: Im „Stammbaum eines Homosexuellen […]findet sich immer ein halbseitig gelähmter Vorfahre, ein schwindsüchtiger Großvater oder ein schwachsinniger Onkel.“ (Foucault 1983, 143)
Der perverse Erwachsene: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm die Psychiatrie an, dass dem Sex ein instinktiver Trieb zugrunde liege, welcher sowohl auf „gesunde“ Weise funktionieren oder aber pervertiert sein könne, wie im Fall der Homosexuellen. Ein breites Schema von Perversionen wurde erstellt, welche „die Psychiater wie Insekten aufreih(t)en und auf seltsame Namen tauf(t)en“ (Ebd. 59). Die Diagnose einer Anomalie und der Ausweis des sexuellen Verhaltens als pathologisch, führten in weiterer Folge zur Anwendung von Korrekturtechniken.
Aus der Medizin der Perversionen in Kombination mit der Sorge um die Gesundheit der Nachkommen entstand eine „gesellschaftliche Praktik, die im Staatsrassismus ihre äußerte und systematische Form“ (Ebd. 143) erlangte und die dem Sexualitätsdispositiv im 20. Jahrhundert „ungeheure Macht und weitreichende Wirkungen“ (Ebd.) verleihen sollte.
2.2. Das Proletariat
Zunächst war die Sorge um den gesunden Körper eine Sache des Bürgertums. Doch aufgrund des fortschreitenden Wandels von der agrarischen zur industriellen Produktion entstanden neue Notwendigkeiten: Einerseits musste der proletarische Körper der maschinellen Produktionsweise angepasst und in ein disziplinierendes System von Kontrollen und Normen eingespannt werden, andererseits musste den Problemen städtischer Verwahrlosung und dem Auftreten von Epidemien wie den Pocken oder der Cholera entgegengetreten werden. Aufgrund des ökonomischen Drucks wurde das Proletariat zur Zielscheibe biopolitischer Maßnahmen, Wohlfahrtsprogramme wurden etabliert, Schulen und Wohnraum geschaffen.
Zielte die Disziplinarmacht darauf ab, die Fabriken und Werkstätten räumlich und zeitlich zu organisieren und die Produktion sorgfältig zu überwachen, so zielte die Biopolitik darauf ab, aus verwahrlosten Massen mittels einer effizienten Fürsorgepolitik eine arbeitsfähige Klasse heraus zu bilden. Die gesunde Bevölkerung wurde sowohl zur zentralen Ressource des modernen Staates als auch des modernen Kapitalismus. Den Kern derselben bildete auch hier die Familie, bei ihr setzten Maßnahmen wie Kampagnen gegen die hohe Sterblichkeit oder Pockenschutzimpfungen an. Ziel der Regierung im Zeitalter der Lebensmacht sei es, so Foucault, das „Los der Bevölkerung zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer, und ihre Gesundheit zu mehren“ (Foucault 1978, 168).
Doch die Bevölkerung war mehr als eine große Masse von Menschen, sie brachte eigene Phänomene wie Sterbe- und Krankheitsraten, Unfallhäufigkeiten, Hungersnöte und Epidemien mit sich. Wie der Kranke zum Objekt der medizinischen Wissenschaft wurde, so wurde die Bevölkerung zum Objekt der Statistik: „Indem die Statistik eine Quantifizierung der Phänomene gestattet, die der Bevölkerung eigen sind, lässt sie deren spezifischen Charakter hervortreten.“ (Ebd. 167) Erst die Statistik führte zur Vorstellung einer zu regierenden Bevölkerung und der Aufgabenstellungen, welche sich daraus für die Regierung ergaben. Um die Lebensbedingungen und damit die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern galt es: Hungersnöten entgegen zu wirken und die Getreideversorgung sicher zu stellen, Wohnraum zu schaffen und die hygienischen Verhältnisse zu verbessern, Geburtenraten zu erhöhen oder zu reduzieren, die Kindersterblichkeit zu verringern, Epidemien einzudämmen, flächendeckende Pocken-Impfungen durchzuführen, die Prostitution einzuschränken und die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten wie der Syphilis zu verhindern. Die Statistik war die „Bewegung, welche die Bevölkerung als eine Gegebenheit, als ein Interventionsfeld und als Ziel des der Regierungstechniken hervorbringt.“ (Ebd.171)
- Die Psychiatrie
Die Normierungsmacht trennt den Raum der Gesellschaft in eine inneren Bereich des Normalen und in einen äußeren Raum das Anormalen: Institutionen wie die Irrenanstalt, das Gefängnis, das Erziehungsheim und teilweise auch das Krankenhaus ziehen eine Grenze zwischen dem, was als harmlos und gesund und dem, was als wahnsinnig, gefährlich und krank gilt und stigmatisieren gleichzeitig den ausgeschlossenen Teil. (Foucault 1977, 256)
Hatte der Wahnsinnige im Mittelalter noch seinen Platz in der Gesellschaft, in der Figur des Hofnarren oder des Dorftrottels, wurde er ab dem 18. Jahrhundert systematisch eingekerkert (Foucault 2015, 492). Zunächst gemeinsam mit Verbrechern, doch bereits nach der französischen Revolution gab es Proteste eingekerkerter Adeliger, die forderten, dass gewöhnliche Kriminelle nicht länger mit Wahnsinnigen vermischt werden sollten (Dreyfus/Rabinow 1994, 31). Der französische Arzt Pinel befreite 1793 die Irren in der Anstalt Bicêtre von ihren Ketten und begründete so die moderne Psychiatrie (Foucault 2015, 39).
Die psychiatrische Anstalt stellt einen Disziplinarapparat dar, in welchem Wissen und Macht durch einen Wahrheitsdiskurs verbunden sind: Im Gegensatz zu den objektivierenden Verfahren der klassischen Medizin bedient sich die Psychiatrie einer Reihe interpretativer Methoden, um die Wahrheit der Krankheit hervor zu bringen. Sie bedarf daher einerseits eines Subjektes, das spricht, und andererseits einer Autorität, welche das Gesagte (hermeneutisch) deuten kann. Somit werden Untersuchung und Geständnis zu grundlegenden Techniken der subjektivierenden Wissenschaft, der Zuhörende zum „Herr der Wahrheit“ (Dreyfus/Rabinow 1994, 211).
Für die „an den Wahnsinn gerichtete Frage nach der Wahrheit“ (Foucault 2015, 338) bediente man sich im 19. Jahrhundert folgender Verfahren: 1. dem Verhör, 2. der Hypnose und 3. der Verwendung von Drogen. Die wichtigste dieser Techniken stellte das Verhör dar, da sich die Psychiater sicher waren, nur durch die Erzwingung eines Geständnisses und der damit verbundenen Anerkennung seines Wahns könne der Verrückte geheilt werden.
Die Überzeugung ein Geständnis offenbare die Wahrheit hat darüber hinaus eine lange Tradition: Die Geständnistechnologie umfasst sowohl die kirchlichen Beichte, als auch die juristische Praxis, den Bereich der Pädagogik ebenso wie die Folterpraxis des Mittelalters. Seit der Inquisition galt die Folter als der „schwarze Zwillingsbruder“ (Foucault 1983, 77) des Verhörs. Die Folter als Technik zur Produktion von Wahrheit finde sich, so Foucault, transformiert in der psychiatrischen Praxis des 19. Jahrhunderts wieder. (Ebd. 1976, 83) Foucault führt folgende folterähnliche Instrumente an, welche gleichermaßen der Bestrafung, als auch der Therapie dienen sollten: „den an der Wand befestigen Stuhl, an den der Kranke festgebunden wurde; den beweglichen Stuhl, der sich umso mehr bewegte, je unruhiger der Kranke selbst war; die Handschellen [erg.: mit Leder besetzte Handschellen aus Eisen]; die Muffs [erg.: schnüren die Hände auf der Vorderseite des Körpers zusammen]; die Zwangsjacke; Weidensärge, in die man die Individuen einschloss [erg.: bei welchen nur für den Kopf ein Stück herausgeschnitten ist]; Hundehalsbänder mit Spitzen unter dem Kinn“ (Foucault 2015, 157) an. Die meisten Instrumente waren so gebaut, dass der Patient sie umso weniger fühlte, je weniger er ihnen Widerstand leistete.
Erwiesenermaßen hatten die aufgezählten Therapieformen keinerlei positive Wirkung, sie stellten lediglich eine „unaufhörliche Bestrafung“ (Ebd. 159) des Geisteskranken dar. Obwohl es scheint, die Anstalt des 19. Jahrhunderts wäre ein Ort totaler Repression gewesen, betont Foucault, diese sei durchaus als ein Ort des Kampfes und der Konfrontation zu betrachten, an welchem sich der Kranke mittels seiner Krankheit ständig der absoluten Macht des Arztes widersetzt habe (Ebd. 141, 494f).Foucault zeigt am Beispiel der Psychiatrie eindrucksvoll auf, dass Wissen sich niemals in einem scheinbar machtfreien Raum der Wissenschaft entfaltet, sondern „dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehungen gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert und kein Wissen, dass nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt“ (Foucault 1977, 39).
Eine besondere Stellung innerhalb der psychischen Krankheiten nahm die Hysterie ein: Sie wurde als speziell weibliche Krankheit und als eine nur dem weiblichen Körper innewohnende Pathologie diagnostiziert. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts galt sie als psychische Krankheit, allein verursacht durch Vorstellungen und ohne somatische Ursachen. Jean-Martin Charcot, Inhaber des Lehrstuhls für Krankheiten des Nervensystems am Hôpital de la Salpêtrière in Paris, stellte dieses Wissen in Frage. Er nahm an, dass es sich bei der Hysterie um eine organische, im Sinne der Medizin „wirkliche“ Krankheit (Foucault 2015, 447) handle. Um jedoch zu den „richtigen, soliden Krankheiten, um die sich die wahren und ernsthaften Ärzte kümmerten“ (Ebd. 443) gezählt werden zu können, musste die Hysterie durch eine Differentialdiagnose beurteilbar sein und damit eine bestimmte Regelmäßigkeit an Symptomen aufweisen. Charcot gelang dieser Nachweis dadurch, dass er hysterische Frauen im Kreis seiner Assistenten wie Schauspielerinnen auftreten ließ: Mittels Hypnose löste er die hysterischen Anfälle nach Belieben aus und stoppte sie wieder, womit er die Symptome jederzeit abrufen und damit die Wahrheit der Krankheit direkt vor dem staunenden Publikum erzeugen konnte: Eine Patientin Charcots hatte innerhalb von dreizehn Tagen 4506 Anfälle. (Ebd. 449f) Die Hysterikerin wurde dadurch, so Foucault, zu einer „funktionellen Marionette“ (herv. im Original, ebd. 451) des übermächtigen Arztes.
Der hysterischen Anfall wurde nach dem Modell der Epilepsie in unterschiedliche Phasen geordnet: Beginnend mit der Phase ungeordneter Bewegungen, über die Phase des „leidenschaftlichen Verhaltens“ (Ebd. 449), in denen Emotionen wie „Lüsternheit“ (Ebd.) zum Ausdruck kamen, endend mit der Phase des Deliriums. Die einzelnen Phasen wurden genauestens dokumentiert, skizziert und, mittels der neuesten Technologie, auch fotografisch festgehalten. Bei den Aufführungen Charcots stand freilich immer die Möglichkeit der Täuschung im Raum: Rufen die Hysterikerinnen die von ihnen verlangten Symptome – zumindest teilweise – willentlich hervor? Tragen diese damit selbst zu den schönen Regelmäßigkeiten ihres Auftretens bei? Derartige Fragen waren keineswegs unbegründet vor dem Hintergrund, dass die Patientinnen massive Vorteile daraus zogen, nun als echte Kranke und nicht mehr als Verrückte interniert zu sein, durch die Hysterie erwarben sie sich ein „Bürgerrecht im Krankenhaus“ (Ebd. 450).
Charcot sah sich jedoch nicht nur mit dem Problem der Simulation konfrontiert, sondern auch mit den „lüsternen Elementen“ (Ebd. 465), den explizit sexuellen Aussagen und Darstellungen der Patientinnen während des hysterischen Anfalls. Diese stellten eine Herabwürdigung der Krankheit als organischer dar und gefährdeten den neurologischen Status der Hysterie. Gleichzeitig konnte er nicht verhindern, dass die Patientinnen bei ihren Anfällen ihr „ganzes individuelles Leben, ihre ganze Sexualität“ (Ebd.) aktualisierten, es blieb ihm daher nur die Möglichkeit, die Verbindung von Hysterie und Sexualität zu ignorieren. Im Winter 1885/1886 machte Freud ein Praktikum bei Charcot, er war täglich bei den Aufführungen anwesend und kannte daher das offene Geheimnis der Hysterikerinnen. Freud thematisierte dies zunächst nicht. Es ermöglichte ihm jedoch, einige Jahre später selbst die Entdeckung der Sexualität in der Hysterie zu machen. (Ebd. 466)
Foucault deutet die „sexuelle Pantomime“ (Ebd. 467) der Hysterikerinnen als Widerstand der Patientinnen gegen die Über-Macht des Arztes, als einen „Siegesschrei“ (Ebd.) in der Konfrontation zwischen dem Neurologen und der Hysterikerin, der genau das zu Tage brachte, was der Neurologe nicht sehen wollte: den sexuellen Körper. (Ebd. 467f) Widerstände seien, so Foucault, das nicht wegzudenkende Gegenüber jeder Machtbeziehung: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.“ (Foucault 1983, 116) Nur unter einem Zustand der Herrschaft seien die Machtverhältnisse unumkehrbar (Foucault 1993, 20).
- Thanatopolitik
Der Bio-Macht ging es ab dem 17. Jahrhundert um das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung. Paradoxerweise waren jedoch die „Kriege nie blutiger als seit dem 19. Jahrhundert und die Regime [erg.: richteten]niemals vergleichbare Schlachten unter ihren Bevölkerungen an.“ (Foucault 1983, 163). Im 20. Jahrhundert kam die dunkle Kehrseite der positiven Lebensmacht in Form der nationalsozialistischen Thanatopolitik zum Vorschein.
Die Eugenik als Wissenschaft der genetischen Vererbung des Volkes diktierte die Grundsätze der Biopolitik des Dritten Reiches. Der Nationalsozialismus beschränkte sich jedoch nicht darauf, wissenschaftliche Konzepte zu adaptieren, die genetische Forschung der Zeit diente ihm vielmehr als „strukturelle und konzeptionelle Referenz“ (Agamben 2016, 155). Der Begriff der Rasse und die Vorstellung, die Rasse basiere auf Vererbung, wurden in enger Übereinstimmung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit entwickelt: Die Forschung bewies, dass das Erbgut in Form von Genen in Chromosomen lokalisiert ist, damit wurden auch pathologische Erbveranlagungen nachweisbar. (Ebd. 154f)
Das nationalsozialistische Regime verschmolz die Fürsorgepolitik des 18. Jahrhunderts mit den eugenischen Erkenntnissen der Zeit, steigerte sie im Namen der „Erbgesundheit des Volkes“ ins Absolute und verkehrte sie gleichzeitig in ihr Gegenteil. 1933, wenige Wochen nach Hitlers Aufstieg zur Macht, wurde bereits das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, welches besagte, dass, wer erbkrank ist, sterilisiert werden kann. Dem folgten 1935 das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ und das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre.“ Auf dieser biopolitischen Gesetzgebung fußten die darauf folgenden biopolitische Programme, wie das Euthanasieprogramm der Jahre 1940 und 1941. (Ebd. 156f)
Ermöglicht wurde das Euthanasieprogramm nicht nur durch die Forschungsergebnisse der Genetik, sondern auch durch die Bildung der Kategorie eines „wertlosen“ oder „lebensunwerten“ Lebens, welches dem „wertvollsten, vom stärksten Lebenswillen und der größten Lebenskraft erfüllten Lebens“ (Ebd. 147) gegenübergestellt wurde. Agamben zitiert beispielhaft einen Strafrechtsexperten namens Binding, welcher gemeinsam mit einem Mediziner namens Hoche für die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ plädierte:
„…welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir nur darauf verwenden, um lebensunwerte Leben so lange zu erhalten, bis die Natur – oft so mitleidlos spät – sie der letzten Fortdauer beraubt. Denkt man sich gleichzeitig in ein Schlachtfeld bedeckt mit Tausenden toter Jugend, oder ein Bergwerk, worin schlagende Wetter Hunderte fleißiger Arbeiter verschüttet haben, und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben – und man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Missklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit in größtem Maßstab auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite.“ (Ebd. 147)
Die Kategorisierung und Gegenüberstellung von „wertvollem“ und „wertlosem“ Leben und der damit verbundene Rechtfertigungsdiskurs über die Tötung des „lebensunwerten“ Lebens lege eine Schwelle fest, so Agamben, jenseits welcher das Leben keinen rechtlichen Wert mehr besitze und getötet werden könne, ohne „dass ein Mord begangen wird“ (Ebd.148). Die souveräne Entscheidung über Leben und Tod bewege sich weg von der Politik auf ein „ambivalentes Terrain, wo der Souverän und der Arzt die Rollen zu tauschen scheinen“ (Ebd.), die Biopolitik des 18. und 19. Jahrhunderts habe mit der gegenseitigen Integration von Leben und Politik begonnen, und die Euthanasie sei der Punkt, an welchem die moderne Biopolitik in eine nationalsozialistische Thanatopolitik kippe (Ebd. 148f): Die Entscheidung über das Leben wird zur Entscheidung über den Tod, die nun nicht mehr wie in den Zeiten der Marter vom Souverän, sondern von den behandelnden Ärzten getroffen wird (Ebd. 130). Die am Euthanasieprogramm beteiligten Ärzte handelten dabei nicht nur gegen den Hippokratischen Eid, sondern auch gegen das Gesetz, „da keine gesetzlichen Vorkehrungen getroffen wurden, die [erg.: ihnen]Straflosigkeit zusicherten“ (Ebd. 152).
Grafeneck in Württemberg, Deutschland, war eines der Hauptzentren des Euthanasieprogrammes, eine ähnliche Anstalt gab es auch in Hartheim bei Linz. Grafeneck erhielt täglich etwa siebzig Personen im Alter von 6 bis 93 Jahren, welche unter den unheilbar Kranken der deutschen Irrenhäuser ausgewählt wurden. Die Kranken wurden zumeist innerhalb von 24 Stunden nach ihrer Ankunft in Grafeneck mit Giftspritzen oder Gas getötet. Aufgrund des massiven Protestes von Angehörigen und Bischöfen wurde das „Euthanasie-Programm für unheilbar Kranke“ nach fünfzehn Monaten wieder eingestellt. In diesem Zeitraum wurden 60.000 geisteskranke Menschen getötet. (ebd. 147f)
Conclusio
Im Zeitalter von Big Dataund unter den Vorzeichen einer zunehmend neoliberalen Politik entstehen neue Fragen rund um den Wissen-Macht-Komplex der Gesundheit: Wohin führen die digitalen Überwachungsmöglichkeiten? Sind wir auf dem Weg zum gläsernen Patienten? Führen Datenspeicherungen im Gesundheitsbereich das Benthamsche Panoticon in technisch transformierter Weise weiter? Wie verändert sich Gesundheitspolitik im postindustriellen Zeitalter? Wird die Biopolitik momentan um eine Psychopolitik, bei welcher die Selbstausbeutung der Psyche und nicht mehr die Fremdausbeutung des Körpers im Fokus von Machttechniken steht, erweitert? Oder werden die Fürsorgepflichten des Staates im Namen eines staatlichen Sparkurses zunehmend reduziert und an den Einzelnen ausgelagert?
In jedem Fall ist die Gesundheit wichtiger Gegenstand öffentlicher Diskurse, und sie bleibt auch weiterhin mit politischen Überwachungs- und Steuerungstechniken, mit Wissenschaften wie der Medizin und der Demografie als auch mit Disziplinarinstitutionen wie dem Krankenhaus in einem Dispositiv verwoben. Foucault´s historische Analysen ermöglichen einen kritischen Blick auf das gegenwärtige Gesundheitsdispositiv und eröffnen mit dem neuen Blick auf alte Machtverhältnisse zugleich Möglichkeiten des Widerstands.
Literaturverzeichnis:
Agamben, Giorgio (2016): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 11. Auflage.
Dreyfus, Hubert L., Paul Rabinow (1994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim: Beltz Athenäum, 2. Auflage.
Foucault, Michel (1976): Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin: Merve.
– (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: suhrkamp tb wissenschaft 184
– (1978): Die „Gouvernementalität“ (Vortrag). In: Michel Foucault. Analytik der Macht. Hrsg. von Daniel Defert und Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt am Main, 2005: suhrkamp tb wissenschaft 71759, S. 148–174.
– (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt am Main: suhrkamp tb wissenschaft 716.
– (1993): Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982. Hrsg von Helmut Becker et al. Frankfurt Ma Main: Materialis, 2. Auflage.
– (2015): Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973-1974. Hrsg. von Jaques Lagrange. Frankfurt am Main: suhrkamp tb wissenschaft 2152.
Han, Byung-Chul (2014): Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt am Main: Fischer.