Leseprobe

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Die machtfreie Welt der Regionalbank

In den vergangenen Jahren hielt ich an der Universität Klagenfurt Feldforschungs-Seminare zum Thema „Macht und Organisation“ ab. Es ging darum, die Studentinnen und Studenten für das Thema Macht in Organisationen zu sensibilisieren und damit auf ihre künftige Berufstätigkeit vorzubereiten. Ein Student brachte dies so auf den Punkt: „Das Thema Macht in Organisationen ist so wichtig und wir machen uns so wenig Gedanken darum.“ 

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erforschten die Macht in unterschiedlichen Organisationen: in der Universität, einer Bäckerei, einer Schokoladenfabrik, einem Kindergarten, einer Polizeischule, einer Arztpraxis, einem Jugendheim, einem Studentenwohnheim, dem lokalen Franchise-Unternehmen einer Modekette und in einem Essens-Lieferservice. Wir gingen dabei nicht von einem abstrakten Modell, sondern von der Analyse konkreter Praktiken der Macht aus. Mit der Machtanalytik Foucaults im Rucksack erforschten die Studentinnen und Studenten den Einsatz von Disziplinartechniken und Überwachungsregimen in Organisationen, sie erforschten die Ordnungen von Raum, Zeit und Körper, Techniken der Normierung des Verhaltens, sie beobachteten, wo kleine Widerstände auftauchten und wie die Führungskräfte damit umgingen. Ziel war es, die Mikro-Techniken der Macht, die in diesen Organisationen eingesetzt wurden und deren Wirkungen wahrzunehmen, zu hinterfragen und danach gemeinsam zu reflektieren. Die Methoden der Feldforschung waren teilnehmende Beobachtung sowie quantitative und qualitative Interviews. 

Dann wurde das Ergebnis eines Interviews präsentiert, das mich verdutzt zurück ließ: Eine Gruppe sprach mit dem Geschäftsführer einer Regionalbank gesprochen und dieser erklärte ihr voll Stolz: „Bei uns gibt es keine Macht mehr, wir haben die Macht abgeschafft. Bei uns haben die Mitarbeiter ein Mitspracherecht, sie können ihre Ideen einbringen und ihre Arbeitsprozesse selbst gestalten. Wenn Probleme auftreten, dann suchen wir gemeinsam nach Lösungen, die für alle passen.“ 

Auf die Frage, welche Sanktionen es bei Fehlverhalten gäbe und wie er mit Widerständen umginge, antwortete der  Geschäftsführer: „Widerstand gibt es bei uns nicht. Manchmal stellen ältere Mitarbeiter die Notwendigkeit von Veränderungen in Frage, weil sie lieber an den gewohnten Abläufen festhalten, aber dann überzeuge ich sie einfach davon, dass diese Veränderungen notwendig sind. Sanktionen gibt es keine, wir sind ja schließlich nicht mehr im Mittelalter, bei einem Fehlverhalten führe ich ein aufklärendes Gespräch.“

Was der Geschäftsführer sagte, klang wie die Wiedergabe eines Management-Ratgebers: Keine Macht, kein Widerstand, keine mittelalterlichen Sanktionen, stattdessen Mitspracherecht, Autonomie bei der Gestaltung des Arbeitsprozesses, Partizipation durch das Einbringen von Ideen, Lösungsfokus statt Problemfokus, gemeinsames Suchen nach Lösungen, da diese auch für alle passen müssen. Das alles begleitet von Kommunikation, Kommunikation und Kommunikation: von aufklärenden Gesprächen und Überzeugungsarbeit. Überzeugung war aus Sicht des Geschäftsführers vor allem bei den älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nötig, da diesen die Notwendigkeit von Veränderungen nicht sofort einleuchtete, sie diese in Frage stellten und an gewohnten Arbeitsabläufen festhalten wollten. Nach Aussagen des Geschäftsführers schien sich in der Regionalbank die Utopie einer schönen neuen machtfreien Welt der Organisation verwirklicht zu haben. Selbst im Wortschatz kamen Begriffe wie „Macht“ oder „Hierarchie“ nicht mehr vor.

Die Aussagen des Geschäftsführers erschienen mir völlig realitätsfern und es wäre interessant gewesen herauszufinden, ob seine Mitarbeiter, vor allem die älteren, diese Sicht der Dinge bestätigt hätten. Nun könnte man dies als Selbstdarstellung einer Führungskraft oder als Darstellung der hübschen Schauseite der Organisation abtun, doch diese Deutung schien mir zu einfach. In den Aussagen des Geschäftsführers und in den Wörtern, die er gebrauchte, kam keineswegs nur seine subjektive Sichtweise zum Ausdruck, vielmehr kam ein Diskurs zum Vorschein, welchen der Organisationssoziologe Stefan Kühl als „Diskurs der neuen Managementgurus“ (2015, 78) bezeichnet und welchen ich im Folgenden Diskurs der schönen neuen machtfreien Welt der Organisation nennen möchte.  

Ein Unbehagen angesichts dieses Diskurses, dem doch eine so „harmonische Sozialutopie“ (Bröckling 2007, 195) zugrunde liegt, erfasste mich, denn aus dem Diskurs waren alle Spuren der Macht und des Kampfes um die Macht sowie alles Destruktive, das mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen in Verbindung steht, getilgt worden. Mein Unbehagen rührte auch daher, dass ein flüchtiger Blick auf Machtverhältnisse in Organisationen genügt, um zu erkennen, dass dieser Diskurs nicht stimmt, dass die Wörter und die Sprache, die verwendet werden, falsch sind, dass mit dieser Sprache die Wirklichkeit nicht benannt, sondern vielmehr verschleiert wird.

Wie zeigt sich nun die Macht in Organisationen? Macht wird in diesen primär als hierarchische Macht verstanden und die Hierarchie basiert auf einem System von Übergeordneten und Weisungsempfängern, sie legt fest, wer wem unterstellt und wer wem übergeordnet ist (Kühl 2015, 97). Lange Zeit galt die Hierarchie unhinterfragt als die primäre Technik der Macht in Organisationen. Wir werden später noch detaillierter darauf eingehen, aber aufgrund einer allgemeinen Demokratisierung der Gesellschaft und einer Veränderung des Umfeldes der Organisationen wurde die Hierarchie in den letzten Jahrzehnten kritisch hinterfragt und es wurden neue Formen der Organisation, wie die Matrixorganisation, entwickelt. Macht sollte in dieser nicht mehr von der Spitze der hierarchischen Pyramide top downnach unten fließen, sondern vielmehr auch quer, also horizontal, und von unten, bottom up, nach oben. Die hierarchische Macht der Organisation sollte durch die demokratische Organisation von Macht auf horizontaler Ebene, abteilungsübergreifend und in Gruppen ersetzt werden. Machtmonopole sollten damit aufgeweicht und Mitarbeiter an Entscheidungsprozessen teilhaben können. (Kühl 2017)

Auf die Reduktion hierarchischer Ebenen in Organisationen schien sich der Geschäftsführer der Regionalbank zu beziehen, als er meinte: „Bei uns gibt es keine Macht mehr. Wir haben die Macht abgeschafft.“ Doch ist Macht in Organisationen ident mit Hierarchie, lässt sie sich auf hierarchische Macht reduzieren? Und wurde die Hierarchie wirklich abgeschafft? Wohin führte die Vision eines machtfreien Raumes in der harten Realität des Organisationsalltags? Löst sich der Antagonismus von Mächtigen und Machtlosen wirklich auf, wenn dieser aus dem Diskurs eliminiert wird? 

Webers berühmte Definition von Macht

Ich konnte die Aussagen des Geschäftsführers der Regionalbank nicht einfach so stehen lassen. Wie Sherlock Holmes begann ich damit, die Aussagen nach Widersprüchen zu untersuchen. Dabei ging ich von der wohl berühmtesten Definition von Macht aus, welche vom deutschen Soziologen Max Weber (1864-1920) stammt, der auch als Begründer der Organisationssoziologie gilt. 

Weber unterschied zwischen Macht und Herrschaft und bezeichnete mit Herrschaft den hierarchisch-bürokratischen Apparat der Organisation. Herrschaft beruhe auf Befehl und Gehorsam, auf Anordnung und Umsetzung, im Unterschied dazu habe Macht viele Gesichter und könne sich in vielen unterschiedliche Formen zeigen, so Weber. Weber definierte Macht folgendermaßen: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht […] Der Begriff der ´Macht´ ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, 

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