Wozu denken, wo es doch KI gibt?
Mehr und mehr setzt sich die Vorstellung durch, dass KI-generiete Informationen und datenbasiertes Wissen imstande wären, menschliches Denken zu ersetzen. Es wird uns suggeriert, dass die KI künftig für alle „Probleme“, die wir haben, sachbezogene „Lösungen“ finden würde, und dass wir unser Denken daher ruhig an Algorithmen delegieren könnten. Aus dieser Perspektive benötigten wir kein Denken mehr.
Gleichzeitig verflacht unsere Sprache: Für Kurztexte und Mails brauchen wir nur wenige Wörter, unser Wortschatz wird kleiner und sprachliche Nuancen verschwinden. X, ehemals Twitter, gibt uns die Zeichenanzahl vor, innerhalb derer wir uns sprachlich bewegen können.
Je oberflächlicher unsere Sprache ist, desto eingeschränkter wird unser Bewusstsein, desto schwieriger wird es, das was wir wahrnehmen, in Gedanken zu fassen und auszudrücken. Differenziertes Denken verliert im Zeitalter von X zunehmend an Relevanz.
Weil wir unsere Zeit mit ständiger Vernetzung, Kommunikation und Informationsaustausch verbringen, fehlt uns die Zeit zum Denken: zum Nach-denken, zur Rückschau, zur Beschäftigung mit dem, was bereits geschah. Wir sind Getriebene, gefangen im Aktionismus und rennen, um zu rennen. Doch nur wenn wir stehen bleiben und reflektieren, können wir uns verändern. Nur die Reflexion ermöglicht es, aus dem Hamsterrad auszusteigen und eine andere Wirklichkeit zu denken.
Das Denken als Praxis besitzt eine eigene Zeitlichkeit, die sich nicht dem Aktionismus anpasst und unzeitgemäß ist. Gedanken und Ideen kommen nicht dann, wenn wir es wollen, sondern nur dann, wenn sie dazu bereit sind, aus den Tiefen der Neuronenmassen in unser Bewusstsein aufzusteigen.
„Wir kommen nie zu Gedanken, Gedanken kommen zu uns“, so Heidegger, praxisnah erläutert von Gerhard Polt in „Der Gedanke“: https://www.youtube.com/watch?v=RZDjx3e0kR4
Dem Denken, welches mehr ist als sachorientiertes Problemlösen und welches nicht unter dem Diktat des „solution focus-approach“ steht, wird in der digitalisierten Welt mehr und mehr der Raum genommen. Wollen wir das Denken trotzdem praktizieren, müssen wir uns bewusst Denkräume schaffen, die ein kontemplatives Denken ermöglichen. Dazu benötigen wir Zeiträume, in denen wir ungestört und geschäfts-los sind. Wir benötigen Orte der Stille. Ein Ort der Stille ist jedoch etwas anderes als ein Home-Office, das mit Laptop, IPad und WLAN-Anschluss für Zoom-Meetings ausgestattet ist.